Donnerstag, Mai 30, 2013

Obsoleszenz ist sexy

Ich bringe Horst eine Tüte Biotomaten aus der Gemüsekiste vorbei. Raucher brauchen Vitamine. Aber Horst gibt seine Hartz-4-Gage lieber für süffiges Herrenhäuser als für Gemüse und Obst aus. Kann ich verstehen, muss halt Prioritäten setzen.




Mein Nachbar hockt vor seinem Laptop und starrt auf die Benutzeroberfläche von Windows 98. In seiner rechten ist seine Roth-Händle-Zigarette zur Aschesäule verglüht. Neben seinem IKEA-Tisch vom Sperrmüll lungern 5 halb gefüllte Bierflaschen. Seltsam, normalerweise lässt Horst keinen Schluck vom Göttertrunk verkommen.



»Moin, Horst. Geht’s dir gut?«

»Du stellst Fragen wie ein gehirnamputierter Idiot, Bresser. Wie sollte es mir gutgehen? Du siehst doch, was ich mache!«

Ich überlege, habe aber keine Idee.

»Mensch, ich warte auf die Obsoleszenz. Das müsste selbst einem Dämlack wie dir einleuchten.«

»Die was?«

»Beziehst du deine nur aus dem Proletariatsfernsehen? O B S O L E S Z E N Z. Frag deinen Sohn, der weiß garantiert, was das bedeutet: Die Lebensdauer von Produkten wird durch bei der Herstellung eingebaute Fehler künstlich verkürzt. Ich habe gelesen, dass mein Laptop 15 Jahre alt wird. In 5 Minuten dürfte es sich von dieser Welt verabschieden.«

»Schweinerei, davon habe ich auch gehört. So zwingen dich Unternehmen, die neusten Produkte zu kaufen.«

Horst blickt mich erstaunt an. »Ich finde es klasse. Mein Fallmanager hilft mir, ein neues Gerät zu beantragen, wenn der Ömmes hier den Geist aufgibt. Irgendwomit muss ich ja Eingaben und Bewerbungsschreiben verfassen.«

»Aber so wird doch ein künstlicher Bedarf geschaffen. Die Leute kaufen mehr, es entsteht mehr Abfall, nachhaltig ist das nicht.«

»Papperlapapp. Du verstehst einfach nichts von Wirtschaft, Bresser. Wenn ich etwas Neues bekomme, explodieren meine Endorphine. Alles gut. Wenn ich nach 15 Jahren einen neuen Rechner besorgen muss, nutze ich den alten nachhaltig. Aufgeschraubt wird er mir gute Dienste als Aschenbecher oder Zeitungshalter leisten. Sei mal ein wenig kreativ.«

Horst schaut auf die Uhr.



»Mist. Alles funktioniert. Wieder keinen neuen Rechner.« Er steckt sich eine frische Roth-Händle an.

»Tut mir Leid. Da war dein Computerhersteller besser als sein Ruf. Vielleicht ist diese Obsoleszenz auch nur eine Zeitungsente.«

In diesem Augenblick kracht die Lampe von der Decke. Horst blickt verwirrt wie ein Hamster auf LSD. Dann schnappt er sich sein Notizbuch und blättert wild darin herum.



»Dreck. Ich habe die Daten verwechselt. Mein blöder Rechner hält noch weitere 15 Jahre. Die Lampe, die meine Mutter vor vierzig Jahre gekauft hat, sollte heute ihren Geist aufgeben. Die hätte ich gerne noch länger behalten.«

»Du kannst sie dir immerhin am Kabel als Kette um den Hals hängen.«

»Spar dir deinen albernen Sarkasmus, Bresser.«

»Immerhin halte deine wenigen Besitztümer«, versuche ich, Horst zu trösten.

»Dafür unternehme ich auch jede Menge. Tag für Tag konserviere ich mein Eigentum mit Tabakrauch. Deshalb funzt alles bis in die Ewigkeit. Eigentlich bin ich Nichtraucher.«

»Im Ernst?«

»Ich bin auch nicht arbeitslos. Bresser, und du glaubst noch an den Weihnachtsmann. Prost.«

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