Mittwoch, Oktober 17, 2012

Ich war noch niemals auf Hawaii

Manchmal wird mir der ganze Lärm zu viel. Mir kommt es vor, als ob die Leute momentan dauernd reden, quatschen oder schnacken. Dann sitze ich still vor mich hin und denke mir meinen Teil. Meist schweifen meine Gedanken durch exotische Gegenden wie zum Beispiel Hawaii. Da würde ich wirklich gerne hinfliegen; zumindest dann, wenn mich Begriffe wie Cash-Flow, Bildungskrise oder Staatsverschuldung in eine tiefe Trance beamen. Selber Reden ist eigentlich noch schlimmer. Im Unternehmen muss ich in Konferenzen Standpunkte mitteilen, als Autor über meine Projekte referieren und als Privatmensch am Familienrat Gedanken zum Allgemeinwohl erörtern. Nun, eigentlich bin ich froh, dass ich am Familienrat teilnehmen darf, denn Marten meint, dass Mama und er als bestimmende Familienmitglieder reichen. Eine aus seiner Sicht durchaus nachvollziehbare Sichtweise, denn dann würde eine mögliche Gegenstimme wegfallen. Normalerweise halte ich mich bei diesen Diskussionen über Speiseplan, Arbeitszeiten und Freizeitaktivitäten zurück. Es reicht mir, still dabeizusitzen, denn meine Lieben wissen meistens, was gut für uns alle und damit auch für mich ist. Und ich kann vor mich hin träumen. Nur heute habe ich ein Anliegen. Ein unerwartetes Redebedürfnis erfüllt mich. »Einen Moment noch. Ich hätte noch ein Thema, was wir dringend diskutieren müssen«, eröffne ich, als meine Lieblinge sich gerade erheben wollen. Die beiden starren mich erstaunt an, setzen sich dann aber, zögerlich abwartend. »Was möchtest du uns denn mitteilen, Michael?«, fragt meine Frau vorsichtig. »Die Zahnpastatube. Ich denke da besteht in unserer Familie Optimierungspotenzial.« »Ihr macht beide die Zahnpasta nicht richtig zu.« Marten ist entrüstet. Oha, da habe ich ein heißes Eisen angepackt. »Richtig, Marten. Aber darum geht es nicht. Mir ist aufgefallen, dass du und Mama irgendwo an der Tube quetscht, meistens oben. Ich halte es für effektiver, die Zahnpasta vom untersten Ende nach oben hin auszudrücken. Dadurch gewinnen wir zusätzliche Paste.« Meine Frau lächelt müde. »Hast du sonst noch Probleme, Michael?« »Ganz im Ernst. Im Jahr können wir durch eine optimale Nutzung bestimmt 10 Zahnpastatuben sparen. Mindestens 40 Euro. Davon könnten wir lecker essen gehen. Du wolltest doch schon immer zum Mongolen.« »Wenn ich mich recht entsinne, wolltest DU zum Mongolen.« »Lass uns nicht streiten. Ist doch egal. Konsensvorschlag: Einer aus unserer Familie wollte zum Mongolen.« So leicht lasse ich mich nicht unterkriegen. »Außerdem habe ich gestern gesehen, wie du selber oben an der Zahnpastatube gedrückt hast«, sagt Marten. »Ja, das stimmt, da war ich Eile. Es geht mir aber nicht um den Einzelfall. Grundsätzlich ist es besser Dinge aufzubrauchen. Da hat man mehr von. Soll ich euch einmal an der Tube demonstrieren, wie ich mir das vorstelle?« »Deine Grundsätze verstehe ich nicht. Du hast dich doch noch nie um die Zahnpastatube gekümmert.« Meine Frau schüttelt den Kopf. Sie wirkt ein wenig angenervt. Verstehe ich nicht. Meine Idee bietet doch ganz neue Perspektiven. »Einmal ist immer das erste Mal. Wenn man Probleme sieht, sollte man sie angehen. Oder Marten?« Ich versuche, mir einen Verbündeten auf die Seite zu ziehen. »Du meinst: Wenn ich nicht aufräumen möchte, könnte ich mich krankstellen. So eine Problemlösung?« »Das finde ich nicht gut, dass du uns anschwindelst.« »Mache ich doch nicht. Hör mir doch nur einmal zu, Michael. Ich habe gesagt: könnte ich mich krankstellen! Das ist mir zu blöd, ich gehe jetzt lieber spielen.« Da verschwindet mein Verbündeter Richtung Lego-Eisenbahn. Gut, dass ich nicht in die Politik gegangen bin. Kungeln liegt mir nicht. »Ich verstehe nicht, was du eigentlich willst. Sonst denkst du doch auch nicht über so einen Blödsinn nach.« Meine Frau wird langsam unruhig. »Ich versuche nur, unsere Zahnpastainvestitionen optimal zu nutzen. Wir kaufen doch auch Lebensmittel und schmeißen nicht sofort die Hälfte weg. Auf Jahre gerechnet, verschwenden wir einen Urlaub in Hawaii.« Zur Demonstration lege ich einen Tui-Katalog auf den Tisch. Blauer Strand und Palmen. Wenn das keine Motivation ist. »Sind unsere Zahnputzgewohnheiten daran schuld, dass wir noch nicht in Hawaii waren?« Der rechte Fuß meiner Frau stampft einen 16/16-Takt auf den Boden. Das macht sie nur, wenn sie richtig sauer ist. Verstehe ich nicht. Die Zahnpastakrise ist doch ein Thema, dessen Lösung der ganzen Familie zugutekommt. »Wenn dir so viel an der Erhaltung unserer Investitionen liegt, solltest du deine Wäsche nicht um das ganze Haus herum verteilen. Ein paar Socken kostet um die fünf Euro. Du hast während unserer Ehe bestimmt 100 Paare verklüngelt. Von deinen eingerissenen Hosen und zu heiß gewaschenen Pullovern will ich gar nicht erst anfangen. Wenn du diese Investitionsnutzung einmal optimieren würdest, könnten wir drei mal um die Welt und zurück reisen.« Da hat sie recht. Wenn ich auch ihre Aufrechnung als etwas kleinlich empfinde. »Ich wollte es nur mal ansprechen«, murmele ich. Seither halten wir es wie immer: Meine Familie quetscht die Zahnpasta, wo sie will, und ich vernichte meine Kleidung. Nach Hawaii fliegen wir in näherer Zukunft auch nicht. Aber wenn andere reden, träume ich weiterhin gerne von den weißen Stränden der Insel. Und denke, wie schön es wäre, wenn meine Familie die Zahnpastatube am unteren Ende quetschen würde.

Keine Kommentare:

Blog-Archiv