Donnerstag, November 08, 2012

Ich tanze gern in meinem Energiekreis

Mein Kumpel Joe und ich hocken wie jede Woche in Charlies Eck und diskutieren die Weltliteratur: Camus, Thomas Mann und mein bescheidenes Oeuvre. »Weißt du, warum der Mann den Nobelpreis bekommen hat und du nicht?« »Weil er große Romane verfasst hat, ich hingegen nur unterhaltsame Krimis?« Ich hasse solche Gespräche. »Bullshit.« Joe leert sein Herri und bestellt ein neues. »Der war ein Fitnessfanatiker. Du solltest für deinen Bauch mittlerweile eine eigene Postleitzahl beantragen. Alkohol und Nikotin sind dem Schreiben auch nicht gerade zuträglich. Das hat der Mann kapiert.« »Was verstehst du denn davon?« Wenn ich meinen Lebenswandel diskutieren will, rufe ich meine Mutter an. Und selbst die hat es aufgegeben, mich zum Gesundheitsfreak bekehren zu können. »Ich nicht viel, aber meine Freundin Ingrid hat eine Frau kennengelernt, die versteht jede Menge davon. Wir haben über dich gesprochen. Und sie kann deine Probleme lösen.« Ich finde es bemerkenswert, dass mir unbekannte Leute meine mir unbekannten Probleme lösen können. »Aha.« »Ingrid sieht das auch so.« »Aha.« »Und deshalb sollen wir beide zu Petras Anti-Aging-Seminar für Männer gehen. Keine Sorge, du bist eingeladen. Mir liegt deine Karriere am Herzen.« »Aha. Ich überlege es mir.« Zwar beleidigt mich die Kritik an meiner körperlichen Verfassung – Mohammed Ali kämpfte schließlich auch im Superschwergewicht-, aber ein Blick am Abend in den Spiegel verrät mit, dass ein wenig körperlicher Ausgleich nicht schaden kann. So betreten Joe und ich zwei Wochen später Petras Heilpraktikerpraxis. Bewaffnet mit Gemüse für das Mittagessen, das wir selber zubereiten werden. Joe trägt einen Kürbis in seinem Jutebeutel, ich habe mein Radieschen dazu gesteckt. »Halihallohallöle«, begrüßt uns Petra. Das muss ich ihr ja lassen. Die Mittfünfzigerin wirkt fitter als Aerobic-Päbstin Fonda zu ihren besten Zeiten. Dazu versprüht sie ein Übermaß an guter Laune. »Die geht mir aber auf den Senkel«, flüstert Joe. »Ich finde sie nett«, stelle ich fest. Wenn mir einer die Grundlagen des gesunden Lebens begreifbar machen kann, dann eine Frau wie Petra. Außer uns befinden sich noch zwei Männer der Bierbauchfraktion, Engelbert und Heiko, im Seminarraum. Beide sind Mitte vierzig und geschieden. Mit einem attraktiven Äußeren möchten sie bei Frauen punkten. Dann man tau. Ach, und dann ist da noch Gebhard. Der passt überhaupt nicht zu uns anderen. Mitte zwanzig, straffer Körper, Zahnpastareklamelächeln. »Ich bin Modell«, erzählt er ungefragt. »Ihr habt mich wahrscheinlich im Fernsehen gesehen. Schießer-Slips? Die Beine im VW-Passat? Oder das Mittel gegen Verdauungsbeschwerden?« Wir schauen selten Fernsehen, behaupten wir. Ein wenig Neid ist schon dabei. So wie Gebhard würde ich auch gerne aussehen. »Ich absolviere das Seminar zum dritten Mal«, erklärt er. »Früher habe ich ausgesehen wie ihr. Das hat mich echt frustriert. Dann bin ich zu Petra gegangen. Das Ergebnis seht ihr. Die Frau kann zaubern.« Er dreht sich um die eigene Achse. »Und ich bin schon Mitte fünfzig.« »Glaub ich nicht. Du siehst fantastisch aus.« »Heute bin ich etwas übermüdet, aber generell kann ich mich nicht beschweren.« »Ganz nett«, murrt Joe. »Der ist doch nicht mal dreißig, der Lügner. Lass uns abhauen. Mich nervt das alles.« »Kommt nicht in Frage. Ich möchte auch so attraktiv wie Gebhard werden. Du hattest völlig recht. Mit so einem Körper verkaufe ich Massen an Büchern.« »Bist du verrückt geworden? Ich habe den Mist doch nur erzählt, damit ich hier nicht alleine hinmuss.« Ich ignoriere Joe und setze mich in die erste Reihe. Petra erzählt uns über die Wichtigkeit des Trinkens. 5 Liter Wasser sollen wir zu uns nehmen. Leuchtet mir ein. »Leider gibt es kein gutes Wasser. Leitungswasser beinhaltet bis zu tausend Schadstoffe, das handelsübliche Mineralwasser ist radioaktiv verseucht.« Wir schweigen betreten. Schließlich frage ich »Was können wir tun, Petra?« »Eine sehr gute Frage, Michael.« Sie strahlt aus allen Poren. »Glücklicherweise gibt es eine Lösung. Du kannst Leitungswasser mit dem Aquafix-Filter reinigen. Das spart jede Menge Geld.« »Das kann ich bestätigen«, sagt Gebhard. »5 Flaschen Wasser à 1 Euro kosten tausendachthundertfünfundzwanzig Euro pro Jahr. Konservativ geschätzt. Unser Filter kostet lediglich einmal zweihundertfünfzig Euro.« »Den nehme ich«, sage ich begeistert. Die anderen folgen, Gebhard kauft sogar 2 als Geschenk. Nur Joe lehnt ab. Will er nicht aussehen wie ein junger Gott? Anschließend geht es zum Wiegen. Alle, bis auf Gebhard, tragen zu viel Körperfett mit sich rum. Gott sei Dank verkauft Petra diese Wagen, die sogar den Wasseranteil anzeigen. Schlappe hundert Euro. Weil wir es sind. Sie ist ein wahrer Schatz. Mittagszeit. Wir essen jeder Stück Babybell, das Petra spendiert. Aus dem Gemüse schnippeln wir einen saftigen Salat. Soviel Frische habe ich noch nie genossen. Da vergeht einem völlig der Appetit auf Pizza, Pommes und Gyros. Nur Joe mäkelt, dass er lieber in eine von Charlies verbrannten Frikadellen beißt als in vertrocknetes Gemüse. Spielverderber. Er wird es schon sehen: In zwei Monaten sehe ich aus wie Gebhard und er… Na noch immer wie Joe. Was per se nicht schlecht ist, aber auch nicht besonders gut. Petra hat Verbindungen zu einem Biobauern, der uns Gemüse frei Haus liefert. Für hundert Euro pro Fuhre! Sie verdient da nichts dran. Es geht nur um uns. Ich liebe diese Frau. Am späten Nachmittag geht es um Sport. Wir alle, ausgenommen Gebhard sind ungelenker als die Bundeskanzlerin beim Fußballjubel. Dennoch heben wir brav die Beine, kneifen den Pot zusammen und schmeißen unseren Oberkörper nach vorne. Nur Joe liegt lethargisch auf dem Boden und starrt böse Löcher in die Decke. Wird schon sehen was er davon hat. Am Ende tanzen wir das Wort Gesundheit und ziehen einen Energiekreis um uns. Damit kann keiner uns was Böses anhaben. Geil! Ich hätte nie gedacht, dass Bewegung Spaß macht. Vielleicht hätten mich meine Eltern doch auf eine Waldorfschule schicken sollen. Gegen Ende des Tages stellt uns Petra noch ein tolles Produkt für unser Wohlbefinden vor: Algenextrakt. Das sind pure Vitamine. Ich abonniere eine monatliche Lieferung von zwanzig Kistchen für hundert Euro, Petra verdient nichts dran, und ordere dieselbe Menge für Joe. Er wehrt sich zwar mit Händen und Füßen, beschimpft mich als Volltrottel, aber ich bin ihm unendlich dankbar für mein neues Leben. Als wir nach Hause gehen ist die Stimmung zwischen uns angespannt. Nicht von meiner Seite, ich schwebe auf Wolken, aber Joe scheint etwas sauer auf mich zu sein. Wir laufen an Charlies Wohlfühltempel vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Unsere Verabschiedung fällt denkbar knapp aus. »Man sieht sich.« Zwei Monate lang führe ich brav das Sportprogramm durch, speise Hüttenkäse mit Algenextrakt und tanze das Wort Gesundheit. Ich fühle mich trotz des permanenten Hungergefühls pudelwohl. Charlies Eck meide ich, denn Charlie hat mir verboten, dort mein Wasser zu filtern. Das würde sich negativ auf den Getränkeumsatz auswirken. Egoist. Muss er selber wissen, ob er auf einen Stammkunden verzichten kann. Da ruft mich eines Tages Gebhard an. Ich habe gerade einen Energiekreis um mich gezogen und berste vor Glück. »Du bist doch auch ein großer Petra-Fan, Micha?«, fragt er. »Ich verehre die Frau«, beteuere ich. »Wahnsinn, wie sich mein Leben verändert hat.« »Du, Petra verkauft jetzt Finanzanlagen. An dem Gesundheitsschrott hat sie ja nichts verdient.« »Oh, sagtest du Gesundheitsschrott?« »Ich würde mich freuen, wenn du bei einem unserer Treffen vorbeikommst. Du kannst auch Mitarbeiter werden. Wie ich. Petra vertritt einen Fond mit griechischen Staatsanleihen. Da verdient sie eigentlich auch nichts dran, nur die Kunden und ihre Mitarbeiter. Wie sieht’s aus?« Als ich aufgelegt habe rufe ich Joe an. »Wann gehen wir mal wieder zum Charlie, mein Freund? Ich erzähl dir eine Geschichte, da wäre Thomas Mann trotz aller Fitness nicht drauf gekommen.«

Mittwoch, November 07, 2012

Ausgeschlossen

Ich wohne gerne zur Miete. Mit zwei linken Händen ausgestattet, muss ich mich nicht selber um defekte Abflüsse, undichte Fenster oder dekorative Türanstriche kümmern. Als ich eingezogen bin, wollte mein Vermieter die Behebung aller baulichen Defekte auf mich abwälzen. »Herr Bresser, so ein durchgerostetes Abwasserrohr repariert sich von selber. Sie gehen zum Hornbach und besorgen das passende Rohr. Nachdem Sie das alte rausgefriemelt haben, stecken Sie das neue vorsichtig rein und befestigen das Ganze mit einem Dichtring.« Das fand ich machbar. Ich lerne gerne neue Dinge. Am nächsten Tag rief ich ihn an. »Sagen Sie mal, Herr Opfermann. Zum Entfernen des alten Rohres nehme ich doch einen Presslufthammer? In Werkzeugkunde bin ich noch nicht so fit.« Im Hintergrund dröhnte eine alte Motörheadscheibe. Das klingt für ungeübte Ohren wie eine Abrissbirne bei der Arbeit. »Nein, Sie müssen sich doch nicht die Finger schmutzig machen. Ich komme sofort vorbei und kümmere mich um das Problem.« Er lernte wirklich rasch dazu. Doch momentan kann er mir nicht weiterhelfen. Frau und Sohn sind für eine Woche ans Meer gefahren und ich hüte die Wohnung. Und das von der falschen Seite der Eingangstür. Kaum habe ich die Tür hinter mir zugezogen, fällt mir ein, dass mein Schlüssel noch auf dem Schreibtisch liegt. Einen Ersatzschlüssel haben wir auch nirgendwo hinterlegt. Mist. Ich starre wütend auf die Tür, doch die bewegt sich nicht. Wäre auch zu schön gewesen. Wenn ich gelenkig genug wäre, würde ich mich mit Freude selber in den Allerwertesten beißen. Aber diese Fähigkeit hat mir der liebe Gott nicht in die Wiege gelegt. In Fernseh-Krimis öffnet sich die Tür, wenn Mensch mit einer Kreditkarte den Schnapper runterdrückt. Versuch macht klug. Meine EC-Karte will ich dann doch keinem Risiko aussetzen. Krankenkassenkarte? Ich bin eigentlich immer gesund, warum nicht. Ich zwänge die Plastikkarte durch den Türschlitz und halte zwei Teile in der Hand. Es überkommt mich das Bedürfnis, sofort einen Brief ans ZDF aufzusetzen, in dem ich mich über unrealistische Verbrauchertipps in diversen Soko-Serien beschwere. Geht nicht, fällt mir ein. Mein Rechner steht in der verschlossenen Wohnung. Ich habe keine Wahl: Ein Schlüsseldienst muss her. Im Allgemeinen haben diese Handwerker einen schlechten Ruf, aber eine zugezogene Tür zu öffnen ist kein Hexenwerk, übe ich mich in Zweckoptimismus. Mit dem I-Phone suche ich ein Unternehmen, dessen Unternehmenssitz auf unserer Straße liegt. Kein Problem sagt mir die nette Dame. Der Monteur fährt bereits vom Hof runter. Nach einer Viertelstunde warte ich immer noch. Ich stiefele die Treppe hinunter und schaue auf die Straße. So lange kann es doch nicht dauern. Nach einer weiteren halben Stunde rufe ich erneut in der Firma an. Ich solle mich gedulden, der Monteur wäre jede Sekunde bei mir. Diese Antwort erhalte ich auch eine Stunde später. Der Monteurwagen wäre hundert Meter von meinem Haus entfernt. Ich solle mal nicht quengeln. Schließlich wäre ich nicht der einzige, der sich ausgeschlossen hätte. Allein in Hannover hätten sie für heute dreihundertsechzehn Aufträge zu erledigen. Da müsse ich geduldiger werden. Ob ich schon einmal meditiert hätte. Okay, da hat sie recht. Ich Egoist. Und wirklich. Jetzt beschleunigen sich die Ereignisse: Nach nur einer weiteren schlappen Stunde hat der Monteur die letzten hundert Meter zurückgelegt und steht vor der Haustür. In der rechten Hand die Werkzeugtasche, in der linken den letzten Rest eines Big Macs. »Wir haben ein Problem, was«, stellt er lapidar fest.« »Was heißt wir? Ich habe mich ausgeschlossen! Sie haben Ihren Wohnungsschlüssel noch!« Er klopft mir beruhigend auf die Schulter. »Ich bin übrigens der Herr Naujocks. Das kriegen wir beide schon hin. Ganz ruhig, Herr Bresser.« Ich weiß nicht warum, aber mein Adrenalinspiegel sinkt. Ich vertraue Herrn Naujocks. »Dann schauen wir uns das gute Stück mal an.« Vor unserer Tür legt sich sein Gesicht in Falten. Gedankenverloren verspeist er den Hamburgerrest. »Uijuijuijuijui, das sieht nicht gut aus. Gar nicht gut.« Er hält mir ein Papier auf einem Klemmbrett unter die Nase. »Unterschreiben Sie erst mal den Auftrag. Dann kann ich mir weitere Gedanken machen.« »Die Tür ist nur zugezogen. Das kann doch nicht so wild sein.« Wie in Trance unterschreibe ich, ohne den Wisch zu lesen. »Sehen Sie hier.« Er zeigt auf einen mikroskopisch kleinen Kratzer auf dem Türblatt. »Das Schloss muss leider gewechselt werden. Alles andere würde größere Schäden verursachen.« »Nur zugezogen. Wirklich nur zugezogen«, wiederhole ich. »Bin ich der Fachmann oder Sie?« Naujocks stupst mich mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Ich lerne gerne von Experten. Aber wenn Sie so gut sind, hätten Sie mich nicht anzurufen brauchen. Oder sehe ich das falsch? Spaß beiseite. Sie müssen mir vertrauen.« Er bohrt, er schraubt, er setzt ein neues Schloss ein und drückt mir drei Schlüssel in die Hand. Dafür braucht er keine 5 Minuten. »Aber nicht wieder in der Butze vergessen«, mahnt er grinsend. »Jetzt kommen wir zum weniger angenehmen Teil, der Rechnung. Einen kleinen Moment bitte.« Er zaubert ein Formular und einen Taschenrechner aus der Tasche, addiert, multipliziert, schreibt kleine Ziffern, addiert wieder und stöhnt. Nach einer halben Stunde überreicht er mir seine Ausarbeitung. »Vierhunderachtzig Euro?« Herr Naujocks klopft mir auf die Schulter. »Weil ich Sie mag, habe ich noch zehn Prozent Rabatt gegeben. Zufriedene Kunden sind mein liebster Lohn.« »Sie waren doch sofort fertig. Das kann doch keine fünfhundert Euro kosten.« »Vierhunderachtzig, keine fünfhundert. Soll ich Ihnen die Rechnung erläutern?« »Bitte!« »Eine Schlüsseldienst braucht einen Wagen. Fahrzeugpauschale achtzig Euro. Dann muss ich den Wagen beladen. Rüstzeitpauschale von hundert Euro.« »Womit beladen?« »Nun werden Sie nicht komisch.« Naujocks wirkt zum ersten Mal verschnupft. »Ich hätte auch ohne Werkzeug kommen können. Hätte Ihnen das geholfen? Also. Ich musste zu Ihnen fahren. Zweihundert Euro.« »Ihre Firma sitzt doch auf meiner Straße. Wie kann das so viel kosten?« Naujocks verdreht die Augen. »Da sitzt nur unsere Telefonistin. Ich hatte vorher einen Einsatz in Salzwedel, reizendes Städtchen, aber weit entfernt. Für die Arbeitszeit muss ich Ihnen hundertdreiunddreißig dreiunddreißig berechnen. Abzüglich 10 Prozent kommen wir mit vierhundertachtzig ins Geschäft. Könnte ich Ihnen noch weiter aufdröseln, aber ich will Sie nicht langweilen.« Ich bin nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, aber jetzt werde ich wirklich wütend. »Das ist purer Wucher. Ihre komische Rechnung hat vor keinem Gericht der Welt Bestand.« »Das finde ich nicht fair. Ich helfe Ihnen in höchster Not und jetzt machen Sie mich so runter. Ich habe Gefühle.« So plötzlich wie er gekommen ist, verraucht mein Ärger. Vor allem, als Gerd, er bietet mir das »du« an, von seinen sechs Kindern, der Pleite mit der Reinigung und den dementen Eltern im Seniorenheim erzählt. Ich kann auch mit Kreditkarte zahlen. Da Gerd für einen Hungerlohn arbeitet und sein Chef das ganze Geld einstreicht, gebe ich ihm fünfzig Euro Trinkgelt. Bin doch kein Unmensch. Beim Abschied verabreden wir uns auf ein Bierchen und ich winke ihm nach. Was für ein toller Mensch. Am nächsten Tag schreibe ich im Café. Während ich mit der rechten Hand den Kaffeepott zum Mund führe, spielt die linke mit dem Schlüsselbund. Mich durchzuckt ein Schreck. Wo sind die losen Schlüssel vom neuen Türschloss? Ich Idiot. Wenn es für Dämlichkeit einen Nobelpreis geben würde, wäre ich der unangefochtene Favorit. Doch dann wird mir ganz warm ums Herz. Vielleicht sehe ich meinen Kumpel Gerd wieder.

Sonntag, November 04, 2012

Auf Tour mit Gerda

Ich mache mir Sorgen. Seit gestern höre ich Stimmen. Genaugenommen zwei. Die männliche habe ich Herr Appler getauft. So hieß mein autoritärer Mathelehrer in der fünften Klasse, der es sichtlich jeden Tag bedauerte, dass die Prügelstrafe in den 1980ern abgeschafft war. Aber die Pädagogik bietet genügend Spielraum für subtileren Sadismus. Und den wusste Herr Appler virtuos auszuschöpfen. Seine Stimme wellt noch heute meine Armhärchen zu einer Jimi-Hendrix-Gedächtnisfrisur. Da ziehe ich Gerda vor. Sie erinnert mich an Fräulein Rottenmeier aus Heidi. Ihre altjüngferliche Autorität spricht anscheinend eine masochistische Ader in mir an. Mehr Alternativen bietet dieses Navigationsgerät nicht. Bulli und Atze Schröder kosten extra. Außerdem ist Routenplanung eine ernste Angelegenheit. Also ist Gerda genau die richtige Stimme für mich. Ich habe lange überlegt, ob ich mir ein Navi zulegen soll. Mensch überantwortet schließlich einen Teil seiner Selbstständigkeit an eine Maschine. »Blödsinn«, meint mein Kumpel Joe. »Willst du weiterhin wie im letzten Jahrtausend mit der Straßenkarte durch die Landschaft gondeln. Deine Technikverweigerung kostet dich bestimmt fünfzig Stunden Lebenszeit pro Jahr.« Das hat mich überzeugt. Und manchmal kann es auch angenehm sein, Verantwortung an andere zu delegieren. Vor allem im Straßenverkehr. Heute lotst mich Gerda nach Neustadt. Am Abend lese ich dort aus meinem aktuellen Roman. Ich habe mich für die Mittagszeit mit Herrn Hoffmeister von der veranstaltenden Buchhandlung zum Schnack beim Essen verabredet. Meine Begleiterin leitet mich auf A2 bis Braunschweig, dann A395 Richtung Bad Harzburg. Schließlich befahre ich diverse Bundesstraßen im idyllischen Harz und bin restlos begeistert. Hätte ich eine solche Tour mit Karte geplant, hätte das bestimmt eine Stunde gekostet. Das Befahren diverser Irrwege nicht mitgerechnet. Ich klopfe mir im Geiste auf die Schulter. Eine kluge Investition. Nach zwei Stunden verkündet Gerda »Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht.« Ich würde es zwar begrüßen, wenn sie mich duzt. Bei Fahrgemeinschaften mag ich eine persönliche Atmosphäre, doch sie lässt sich nicht dazu überreden. »Dankeschön. Guter Job«, lobe ich sie. Ich finde sofort einen Parkplatz und freue mich, wie gut es das Leben mit mir meint. Als ich aussteige bin allerdings etwas verwirrt. Ich habe mir als Adresse Bahnhofstraße aufgeschrieben. Keine Buchhandlung in Sicht. Ich betrete eine Metzgerei. »Entschuldigen Sie. Ich suche die Buchhandlung Leselust. Wo finde ich die?« Die korpulente Verkäuferin, deren Gesicht der Salami in der Auslage ähnelt, mustert mich misstrauisch. »Buchwas?« »Buchhandlung. Ich lese dort heute Abend. Sie sind herzlich eingeladen.« Ich zeige mich von meiner besten Seite. Vergeblich. »Sowas gibt es hier nicht. Wir sind ein anständiger Ort.« Eine Kundin meint »Vielleicht in Niedersachsenwerften? Hier gab es wirklich noch nie eine Buchhandlung. Vor allem nicht mit diesem Namen.« Okay. Ich scheine hier falsch zu sein. Vielleicht gibt es hier im Harz noch ein anderes Neustadt? Der Ortsname soll ja nicht selten vorkommen, überlege ich. Ich trete auf die Straße und zücke mein Handy. »Joe, du musst mir helfen. Ich kann in dieses Navi keine Postleitzahl eingeben. Schau mal, ob es hier in der Ecke ein anderes Neustadt gibt. Und welcher andere Ort dort in der Nähe liegt?« »Gibt es. Fahr vielleicht nach Mackenrode. Dort müsste es ausgeschildert sein.« Brav tippe ich Mackenrode in mein Navi und die Straße hat mich wieder. Gerda führt mich an idyllischen Orten wie Bad Sachsa, Bad Lauterberg Richtung Westen. Nach einer guten Stunde erreiche ich Mackenrode. Ich frage einen Passanten nach Neustadt. Keine Ahnung, da gibt es eins bei Hannover. Das kenne ich selber, das ist es nicht. Dann kann er mir auch nicht weiterhelfen. Obwohl ich das Ortseingangsschild mit eigenen Augen gesehen habe, frage ich noch mal nach. Nee, Mackenrode stimmt schon. Aber das gibt es zwei Mal. Ich solle in Richtung Bad Sachsa fahren und dort weiterfragen. »Ich habe ein Navi«, sage ich entrüstet. Da sollte Mensch nicht fragen müssen. Er zuckt die Schultern. »Warum sprechen Sie mich dann an.« Ist mir auch ein Rätsel. Im Auto starre ich finster auf das Navi. Ich rufe noch mal Joe an. »Das Mackenrode ist falsch. Und das andere liegt neben dem Neustadt, wo ich schon war.« »Nee, da gibt es kein anderes Neustadt. Allerdings im Südharz eine Straße, die Neustadt heißt. Auch in Harzgerode. Warum rufst du nicht einfach diesen Buchhändler an?« »Ich habe die Nummer verlegt«, gestehe ich. »Dann musst die Orte abklappern. Du hast jetzt so ein tolles Tom-Tom. Nutze es doch.« Um 13 Uhr erzählt Gerda mit ironischem Unterton »Sie haben ihren Bestimmungsort erreicht.« Nein, habe ich nicht. Nur ein weiteres Neustadt, einen lauschigen Luftkurort, allerdings ohne Buchhandlung. »Hier erholt man sich«, erklärt mir der Wirt vom Goldenen Ochsen. »Da würde eine Buchhandlung nur stören.« Sehe ich ein. Bis Harzgerode sind es nur zwanzig Minuten. Und tatsächlich. In der Nähe des Bahnhofs finde ich meine Buchhandlung. Nicht Bahnhofstraße, Nähe Bahnhof. Das hätte ich mir präziser notieren müssen. Auf mein Navi ist Verlass, nur nicht auf mich. »Entschuldigen Sie, dass ich zu spät komme. Ich habe nicht so gut hergefunden«, begrüße ich Herr Hoffmeister. »Kein Thema. Haben Sie etwa kein Navigationsgerät? Ohne wäre ich auch aufgeschmissen.« Mitleidig klopft er mir auf die Schulter. Ich sage nichts und schaue möglichst zerknirscht aus der Wäsche. »Egal. Aber was machen Sie eigentlich schon heute hier? Die Lesung findet doch erst morgen statt.« Davon hat mir Gerda nichts gesagt. Ich empfinde nur ein wenig Wehmut, als ich vor der Rückfahrt das Navi in den nächsten Mülleimer schmeiße. Delegieren ist einfach nicht mein Ding.

Samstag, November 03, 2012

In der Bahn mit Satan

Straßenbahn Richtung Stadtmitte, 01.30 Uhr. An der Noltemeyerbrücke steigt ein Mann, Mitte fünfzig, zu. In der Hand hält er eine Flasche Gilde, die grauen Haare türmen sich wuschelig auf. Mir kommt es vor, als ob sich in Stirnhöhe zwei Hörnchen bilden. Aber wahrscheinlich bin ich nur müde. Jedenfalls verströmt der Kerl diesen ranzigen Geruch von Ärger. Demonstrativ blicke ich aus dem Fenster. Hilft nichts, er setzt sich in die Bank links neben mir. »Der Hitler wurde mir zu mächtig. Dem habe ich 42 in Stalingrad gezeigt, wo der Frosch die Locken trägt.« Ich ignoriere ihn zunächst. Doch er steht auf und setzt sich direkt neben mich. Er riecht wirklich intensiv. So als hätte er seinen abgerissene Jeansjacke mehrere Stunden über dem Kaminfeuer aufgewärmt. Instinktiv rücke ich näher ans Fenster. »Der Hitler hat sich was angemaßt. Du glaubst es nicht, mein Freund. Der hat sich mit Wagner-Opern berauscht und meinte, er könne es mit dem Satan aufnehmen.« »Aha«, heuchele ich Interesse. »Was sagt dir die Zahl 666?« Ich schweige. Der Dialog behagt mir nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass der Typ gewalttätig werden kann. »666 ist meine Zahl. Totale Verdammnis. Der Armageddon. Und dieses Kunstmalerwürstchen meint, er könne es mir gleichtun. Weißt du, dass der selber kein Arier war?« Nur noch drei Stationen. Bald habe ich es geschafft. »Du brauchst nicht zu antworten. Das wissen die wenigsten. Adolfs Familie stammt aus Anatolien. Die hießen ursprünglich Hütlük und haben sich eindeutschen lassen. So ein Blender.« Er holt eine volle Flasche Gilde aus einer Plastiktüte. »Weißt du, Bruder. Den Adolf hat der Mann mit dem weißen Bart genauso gehasst wie ich. Natürlich aus anderen Gründen. Trotzdem: Der musste weg. Heute mobbst du Politiker über das Internet. Das war früher schwieriger. Gott und ich haben dann die Alliierten in Bewegung gesetzt. Die sollten euch Deutschen das Feuer unterm Arsch anzünden.« Er lacht und legt mir eine Hand aufs Bein. »Du sprichst auch gut Deutsch. Ich wusste gar nicht, dass Satan Deutscher ist«, stelle ich fest. Er zieht die Hand zurück, nimmt einen Schluck Bier und rülpst. »Werde mal nicht komisch, Kleiner. Was sonst? Ami, Jude oder Taliban? Nö, als Deutscher fühle ich mich in meinem Element. Aber lenk mal nicht ab. Jedenfalls haben Gott und ich eine Allianz geschmiedet. Was meinst du, wer Adolf die Knarre im Bunker in die Hand gedrückt hat? Der Typ hat bis zuletzt an den Endsieg und Großdeutschland geglaubt. Der wäre nie freiwillig abgetreten.« »Wenn du es sagst. Dann müssen die Geschichtsbücher umgeschrieben werden, was.« »Du sagst es.« Er leert die Flasche. »Bist du wirklich Satan?« Langsam lähmt mir der penetrante Schwefelgestank den Atem. »Was ist wirklich, was ist Fiktion? Philosophie lag mir nie. Wenden wir uns praktischen Fragen zu. Wo steigst du aus, mein Freund?« »Vier Grenzen, nächste Haltestelle.« »Da hätte ich noch was.« Er zückt einen Ausweis. »Allgemeine Fahrscheinkontrolle. Ich weiß, es ist spät, aber dürfte ich dein Ticket sehen.« Mist. Ich wühle alle Taschen durch. Nichts. Zähneknirschend zahle ich vierzig Euro Strafe. Nicht, dass mich sein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift »Auhswiß« sonderlich beeindruckt hätte. Aber mit dem Satan lege ich mich nicht an.

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