Montag, Dezember 17, 2012

Herr Habermann macht Alarm

Unser Vermieter Herr Habermann liebt die Sicherheit. Damit wir nicht geklaut werden, hat er eine Alarmanlage installiert, die uns gegen Vandalismus, Glasbruch und Beelzebub persönlich schützt. Es reicht, wenn die Haustür länger als 3 Minuten offensteht oder eine Einkaufstüte zu Boden fällt. Dann schrillt eine Sirene lautet als eine Death-Metal-Combo. Ich halte mir die Ohren zu, rase in unsere Wohnung im zweiten Stock, setze mir einen von Herrn Habermann zur Verfügung gestellten Ohrenschützer auf, renne zurück in den Keller und schalte die Anlage aus. Dies ist mir in diesem Monat bisher 3 Mal passiert. Ein Einbrecher könnte gar nicht in unser Haus eindringen, weil dauernd Mieter durchs Treppenhaus hetzen, um die Alarmanlage zu entschärfen. Da würden ungebetene Gäste auffallen.

Leider gibt es für unsere Wohnung auch eine Anlage, die ähnlich empfindlich ist. Marten rutscht im Flur aus, der Alarm dröhnt als würden die Entenhausener Panzerknacker zur Attacke blasen.
»Was habe ich gemacht?«, fragt der Kleine erstaunt. »Nichts, ich stelle diese verdammte Anlage jetzt aus. Verdammt hast du nicht gehört.«
Abends begegne ich Herrn Habermann im Treppenhaus.
»Herr Bresser, gut, dass ich sie erwische. Mir ist da was aufgefallen. Als ich unten im Keller an meiner Monitorwand saß, stellte ich fest, dass Sie den Alarm ausgeschaltet haben. Kann man ja vergessen. Ich habe ihn sofort wieder scharfgemacht. Soll Ihnen ja nichts passieren.« Er klopft mir beruhigend auf die Schulter.
»Herr Habermann. Mein Urgroßvater Arnold Breskowski fuhr in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Trittbrett eines Zuges von Warschau ins Ruhrgebiet, um dort in einer Zeche zu arbeiten. Später baute er in Kirchhellen ein Haus. Dort lebt heute noch meine Mutter. In den ganz gut siebzig Jahren seiner Existenz hat dort niemand eingebrochen. Ohne Alarmanlage.«
Habermann lauscht meiner Geschichte mit aufgerissenen Augen.
»Interessant, aber das Haus liegt in einem Dorf. Wir leben in einer Großstadt. Da muss man sich ganz anders schützen. Ich hätte noch einen besonderen Service des Alarmanlagenherstellers. Wenn Sie mir ihre Mobilnummer anvertrauen, werden Sie auch im Urlaub darüber informiert, wenn der Alarm anschlägt. Selbst auf den Malediven.«
»Nein, ich will es nicht wissen.«
»Aber beschweren Sie sich hinterher nicht, ich hätte es Ihnen nicht angeboten.« Habermann ist schwer beleidigt. Ich sage ihm lieber nicht, dass ich diesen Alarm am liebsten für immer ausschalten würde.

Eine Woche später. Ich komme nachmittags aus der Stadt, wo ich in Charlies Eck am aktuellen Roman geschrieben habe. Steffi und Marten sind noch außer Haus. Ich räume in der Küche die Kaffeetassen vom Frühstück in die Spülmaschine. Im Radio spielt Lang Lang Chopin. Meine Stimmung ist gut, ich bin im Flow. Da klingelt es. Hat Steffi den Schlüssel vergessen? Ich öffne die Wohnungstür. Herr Habermann stürzt in die Wohnung, zieht sie hinter sich zu und baut sich vor mir auf. Hat er überhaupt gefragt, ob er reinkommen darf? Ich erinnere mich nicht.
»Ha«, sagt er. Auf eine Begrüßung verzichtet er. Wird auch überschätzt, denke ich.
»Ha was?«, frage ich.
»Ist Ihnen nichts aufgefallen?«
Der Mann spricht in Rätseln. Vielleicht sollte ich ihn an Günther Jauch weiterempfehlen. Ist Ihnen nichts aufgefallen? Antwort a: »Nein.« Antwort b: »Ja.« Antwort c: »Das Bild im Wohnzimmer hängt schief.« Antwort d: »Durch das Gesetz der Schwerkraft fällt nichts auf, nur hinunter.« Eine Vierundsechzigtausend-Euro-Frage.
»D. Äh, mir ist nichts aufgefallen.«
»Ihm ist nichts aufgefallen. Wunderbar. Haben Sie denn Ihren Anrufbeantworter noch nicht abgehört?«
»Bin ich noch nicht zu gekommen.« Was will denn der Kerl von mir.
»Wissen Sie wenigstens, wo Ihre Frau ist?«
»Einkaufen? Um was geht es denn?«
»Also Sie haben noch nicht mit der Polizei gesprochen. Hätte ich mir bei jemanden wie Ihnen denken können.«

Plötzlich fährt mir ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinunter.
»Ist meine Frau was passiert?«
»Andere Sorgen hat er nicht? Da fragt er mich im Ernst, ob seiner Frau was passiert sei. Ha.«
 »Ha.« Ich mag es nicht, wenn jemand von mir in meiner Anwesenheit in der dritten Person spricht. Da bin ich empfindlich.
»Äffen Sie mich nicht nach. Bei Ihnen wurde eingebrochen. Ich habe heute Morgen das Treppenhaus inspiziert, da stand Ihre Wohnungstür sperrangelweit offen. Ich habe natürlich sofort die Polizei gerufen. Wir haben gemeinsam den Tatort und Spuren gesichert.«

Ich weiß nicht, was er will. Die Wohnung sieht nicht anders aus wie heute früh. Habe ich die Tür nicht hinter mir zugezogen?
»Besonders dreist fanden wir, dass die Einbrecher in Ihrer Küche Kaffee getrunken haben. Als Sie mich hörten, sind Sie rasch geflüchtet, denn die Maschine war noch eingeschaltet.«
»Hören Sie, Herr Habermann. Ich habe vielleicht vergessen, die Tür zu schließen. Das hätten Sie auch machen und mir vielleicht eine Notiz in den Briefkasten schmeißen können. Es war völlig unnötig die Polizei zu rufen.«
Habermann läuft knallrot an.
»Ich biete Ihnen Sicherheit vom Feinsten und Sie gefährden alles. Da hätte sich doch ein pakistanischer Bombenleger bei Ihnen einnisten können, und Sie hätten nichts gemerkt. Da lässt der feine Herr einfach die Tür offenstehen.«
»Kann doch passieren. Das Thema hat sich für mich erledigt.«
»Ha. Aber für mich noch lange nicht. Wie ich Sie kenne, haben Sie auch das Treppenhaus mit Farbe beschmiert. Wischen Sie die gefälligst weg.« Er schnappatmet jetzt.
»Ihre Maler arbeiten doch hier. Die Farbe stammt bestimmt von denen.«
»Immer will es keiner gewesen sein. Das ist ganz schlechter Stil, Herr Bresser.«

In diesem Augenblick öffnet sich die Tür. Von ganz alleine. Wir beide bestaunen dieses paranormale Phänomen.
»Ihr Maler hat doch auch an den Türrahmen gearbeitet. Vielleicht schließt sie deshalb nicht richtig?«, mutmaße ich.
»Muss ich prüfen. Nichts für ungut.« Habermann verschwindet. Ich fühle mich als moralischer Sieger.

Am nächsten Tag besucht uns der Maler und richtet die Tür wieder. Anschließend stellt er eine Sphinxbüste ins Treppenhaus. Mit integrierter Lichtschranke. Sobald jemand sich unserer Tür nähert, singt sie »Walk like an Egyptian.« Somit ist Herr Habermann immer über Eindringlinge informiert.

Wir überlegen ernsthaft, in eine weniger sichere Wohnung umzuziehen.

Samstag, Dezember 15, 2012

Ich bin ein Gutmensch

Ich halte mich für einen Gutmenschen. Auch wenn dieser Begriff gerne als Schimpfwort von rechten Populisten und Wutbürgern verwendet wird, adelt er mich. Ich habe moslemische Freunde, spende für meinen Fußballverein und bin nett zu meinen Mitmenschen. Zumindest oft. Okay, öfter als der Durchschnittsbildzeitungsleser. Aber an manchen Tagen fällt mir diese Einstellung verdammt schwer.

Wir bekommen heute Besuch von den Schreiers. Die kennen wir nicht persönlich. Joe hat sie mir bei unserem letzten Stammtisch in Charlies Eck empfohlen.
»Wir treffen uns übrigens mit einer netten Familie aus der Wedemark. Bekannte von Ingrid. Die haben Kinder in Martens Alter, sind sozial engagiert und künstlerisch interessiert. Ihr würdet gut zusammenpassen«, erzählt er beim letzten Bier.
Ich überlege. Marten freut sich bestimmt über Kinderbesuch. Und wenn wir auf einer Wellenlänge schwimmen, warum nicht. Ich lasse mir die Rufnummer der Schreiers geben und lade sie am nächsten Tag für Samstag zum Kaffee ein. Am Telefon klingt er nett, dieser David.

Es ist vierzehn Uhr dreißig. Steffi hat den kompletten Vormittag Kuchen gebacken. Reistorte mit Ananas, die wir alle sehr lieben. Kakao- und ein Schokokusskuchen für die Kinder. Es ist alles für einen vergnüglichen Nachmittag unter Freunden bereit.
Als es klingelt stürmt Marten die Treppe herunter. Er kommt mit David, Birte und drei Kindern zurück. Die Schreiers sind etwas jünger als wir, Mitte dreißig schätze ich. David trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose, Birte eine weiße Bluse zu dunkelblauem Rock. Etwas steif, vielleicht hätte ich doch nicht das Motörhead-Longsleeve anziehen sollen. Die Kinder wirken auch wie aus dem Ei gepellt.

»Wir grüßen euch. Möge dies ein unvergesslicher Tag werden.« Birte reicht mir die Hand.
»Moin«, sagt Steffi. »Wir freuen uns.«
»Darf ich euch unseren Nachwuchs vorstellen. Josef ist 9.« Er zeigt auf den größten Jungen. Er trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose und sieht aus wie David in klein.
»Alles klar, Josef.«
»Ich fühle mich geehrt, in Ihre Räumlichkeiten eingeladen zu werden«, entgegnet Josef.
»Wie gewählt er sich ausdrückt«, lacht Birte. »Josef besucht einen Debattierclub im Gymnasium, obwohl er noch zur Grundschule geht. Ein kleines Genie.«
Das verschüchterte Mädchen im karierten Rock und gelber Strumpfhose heißt Sarah. Jakob, der kleinste, ist 4. »Er ist hochbegabt. Wir haben uns überlegt, ihn schon jetzt einzuschulen. Was meint ihr?«
»Wenn er so talentiert ist«, murmele ich. Steffi blickt mich an und zieht die Augenbraue hoch.
»Kommt doch erst mal hinein«, sagt sie.
»Gerne. Ist aber auch kalt draußen.« David reibt sich die Hände.
»Die durchschnittliche Temperatur im Dezember letzten Jahres lag bei 3,8 Grad. Die Tiefsttemperatur in Hannover bei -2,1. Da zieht man sich entsprechend an, Papa«, weiß Josef.
»Recht hast du mein Sohn. Wie könnten wir ohne dein Wissen überleben.« Bin ich froh, dass Marten kein Klugschnacker ist.

Zehn Minuten später haben die Schreiers ihre Garderobe abgelegt. Wir sitzen mit  Birte und David um den Wohnzimmertisch. Sarah und Jakob sind mit Marten im Kinderzimmer verschwunden. Josef sitzt lieber bei den Erwachsenen, weil unsere Gespräche seinen Wortschatz bereichern.
»Und du bist Autor, sagt Joe. Er hat mir auch einen deiner Romane mitgegeben. Willst du ehrliche Kritik hören?«, fragt David. Eigentlich nicht. Dennoch sage ich »Aber gerne, konstruktive Ratschläge schaden nie.«
»Du versuchst auf Teufel komm raus witzig zu sein. Das wirkt verkrampft und schreckt die Leserschaft ab. Wir möchten kleine Bonmots zum Schmunzeln. Und dieser verrückte Handyverkäufer, der in das Haus seiner minderjährigen Kundin einbricht, um den Vertrag zurückzuholen. Völlig unglaubwürdig. Nicht wahr, Birte?«
»Habe ich auch so empfunden. Sorry, Micha. Das war nix.«
Ich weise darauf hin, dass in keinem meiner Romane ein Handyverkäufer eine Rolle spielt. Klingt eher nach Tommy Jaud. Aber die Schreiers schwören, dass es sich um mein Buch handelt. Ich gebe ihnen recht. War ein schwaches Buch von mir.

»Die Schriftstellerei ist nicht jedem vergönnt, Micha. Mir auch nicht, wenn es dich tröstet. Daher bin ich Lehrer geworden. Mir ist es wichtig, dass junge Menschen zu helfen, ihren Platz im Leben zu finden. Spielt Marten eigentlich ein Musikinstrument?«
»Etwas Keyboard. Das hat er sich selber beigebracht«, erzählt Steffi.
»Prima, ein musikalischer Junge. Kann er uns etwas vorspielen?«
Warum nicht. Wir holen Marten ins Wohnzimmer, der sich nur widerwillig vom Bahnspielen mit den Schreier-Kiddies trennt.  Birte muss unterdessen zum Auto. Sie hätten etwas vergessen. Mir fehlt sie nicht, stelle ich fest.
Marten intoniert auswendig Guten Abend, Gute Nacht. Wir platzen vor Stolz. Da klingelt es. Birte. Steffi öffnet ihr. Frau Schreier schleppt einem Gitarrenkoffer, Bongos und 2 Flöten in die Wohnung.
»Ganz nett, was euer Sohn da fabriziert hat, aber durchaus ausbaufähig.« David tätschelt Martens Kopf, was dieser mit angenervter Miene über sich ergehen lässt. »Wir machen auch ein wenig Hausmusik. Schließlich zahlt es sich aus, dass alle Kinder zwei Instrumente lernen.«
Vor unserem Fernseher baut sich die Schreier-Band auf. David an der Gitarre, Birte Flöte, Josef schlägt die Trommeln und Sarah flötet auch. Der kleine Jakob spielt nichts. Er lernt Klavier und lehnt es ab, auf unserem Keyboard zu spielen, da Plastiktasten den Anschlag verderben.
He’s got the whole world in his hand. Ich wusste gar nicht, dass der Song fünfzehn Strophen hat. Obwohl es eigentlich perfekt klingt, hasse ich es. David und Birte schütteln rhythmisch ihre Körper wie Whoopy Goldberg auf Ecstasy. Das ist nicht schön.

»Ganz fein habt ihr das gemacht«, lobe ich gönnerhaft. »Aber den Flötenlehrer würde ich wechseln. Ich bin zwar absoluter Laie, manch unsauberen Ton habe ich dennoch rausgehört.«
Steffi tritt mich unter dem Tisch, aber das musste einfach gesagt werden. David schaut mich finster an, dann klärt sich seine Miene auf.
»Kritik eröffnet die Chance zum Wachstum. Schön, dass du ehrlich bist. Wir schauen uns nächste Woche nach einem neuen Musikpädagogen für Sarah um. Super.«
»Wollen wir nicht Kaffee trinken«, versucht meine Frau die Situation zu entschärfen, weil sie merkt, wie ich innerlich koche.
»Oh, wir trinken keinen Kaffee«, sagte Birte. »Nur Tee aus biologischem Anbau. Wir sind gegen Umweltgifte allergisch.«
»Kein Problem. Haben wir auch.«

Nachdem wir die Kuchen aufgetragen haben, tritt die nächste Herausforderung auf.
»Sind die selbstgebacken?«, fragt Birte. »Natürlich«, sage ich.
»Auch das Mehl selber geschrotet? Industriemehl vertrage ich nicht.«
»Wir sind nämlich Selbstversorger«, erzählt David stolz. »Wir ernähren uns von dem, was unser Gärtchen uns bietet. Birte backt jeden Tag Brot aus selber angebautem Korn. Unser Gemüse züchten wir auch. Gerade für Kinder in der Entwicklung ist eine gesunde Lebensweise unverzichtbar. Das wäre bestimmt auch für Marten gut. Er macht einen nervösen Eindruck auf mich. Industriegifte!«
»Eigentlich ist Marten ganz glücklich, so wie wir leben. Mit eigenem Korn können wir mitten in der Stadt nicht dienen. Also wollt ihr keinen Kuchen?«
»Wenn er vom Biobäcker ist, würden wir eine Ausnahme machen. Nicht wahr, Schnuffelchen?«
»Ja, die Männer könnten ja zum Biobäcker gehen«, stimmt Birte zu.
»Ich gehe allein«, sage ich rasch. »Das will ich David nicht zumuten. Bei der Kälte.«
»Das wäre ich dir echt dankbar«, stimmt der mir glücklich zu. »Wir beide können noch beste Freunde werden. Was, Micha.«
»Beste Freunde. Das habe ich auch gerade gedacht«, lüge ich, ohne rot zu werden.

Ich fahre eine halbe Stunde nach Linden zur Biobäckerei. Währenddessen verfluche ich mich unentwegt, mich mit diesen Wichtigtuern verabredet zu haben. Freunde suche ich mir in Zukunft selber aus. Als ich vor der Biobäckerei stehe, kommt mir eine Idee. Für einen Euro kriege ich einige Verpackungen. Da sind die jungen Damen sehr zuvorkommend. Dann gehe ich zum Bilig-Back-Shop nebenan und hole 2 Kuchen. Die verpacke ich mit den Biobäckereiverpackungen. Das ist kindisch, macht aber Spaß.
Wieder zu Hause tische ich den vermeidlichen Ökokuchen auf.
»Da schmeckt man gleich den Unterschied«, doziert Birte.  »Fast wie zu Hause«, schwärmt David. »Vielleicht schrotet Steffi bald auch Körner. Außerdem solltest du Marten eine Holzeisenbahn tischlern. Die sind einfach zu fertigen und viel gesünder für den Jungen als dieses Plastikzeugs. Bei uns kommt kein gekauftes Spielzeug ins Haus.«
»Das ist übrigens kein Biokuchen«, platzt es aus mir heraus. »Die hatten sich nur die Verpackung von dort geborgt. Der Biobäcker hatte geschlossen.«
Triumphierend schaue ich David an. Jetzt wird er wutentbrannt seine Gabel hinschmeißen und mit seiner Super-Familie im Schlepptau aus unserem Leben verschwinden.
David und Birte sehen sich tief in die Augen.
»Micha. Wir wissen doch spätestens seit deinem Handyverkäuferroman, dass du einen Sinn für schlechte Späße hast. Es schmeckt hervorragend. Wir wissen, was Bio ist. So gut wie mit euch haben wir uns übrigens schon lange nicht mehr unterhalten. Wir treffen uns von nun an regelmäßig. Was haltet ihr davon?«

Als uns die Schreiers verlassen haben, beschließen wir, am nächsten Tag unsere Telefonnummer zu wechseln.
Ich rufe Joe an. »Was habe ich dir getan, dass du mir solche Leute auf den Hals hetzt?«
»Du hast meinen Geburtstag vergessen. Dafür solltest du einen kleinen Denkzettel erhalten.«
»Tut mir Leid«, murmele ich. »Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Aber musste die Strafe so hart sein?«
»Quatsch. Ich hatte gar keinen Geburtstag. Reiner Selbstschutz. Die Schreiers hatten angefangen, sich bei uns einzunisten. Und diesen Bio-Kram kann ich nicht ab. Ingrid schon, die vermisst die Vollhorste auch. Sonst sind sie sonntags immer bei uns aufgelaufen.«
Joe schwört, unsere neue Nummer nicht an David weiterzugeben. Dafür verrate ich Birte nicht, dass Joe regelmäßig die Nachrichten der Schreiers von ihrem Anrufbeantworter löscht. Zum Glück rufen sie nie auf Handys an. Prinzipientreue hat ihre Vorteile.

Immerhin weiß ich seit dem Besuch der Schreiers eines sicher: Ein richtig guter Gutmensch bin ich noch lange nicht. Mir fällt schon der eine oder andere Zeitgenosse ein, dem ich die Nummer der Schreiers in die Hand drücken könnte.

Donnerstag, Dezember 13, 2012

Ein schwieriger Patient 3



Ich esse gern. Das ist vermutlich erblich bedingt. Mein Vater hat gerne gegessen und mein Großvater, den ich nicht kennenlernen durfte, vermutlich auch. Leider ist das Oststadt-Krankenhaus eine kulinarisch befreite Zone. Zumindest für mich. Über den Tropf erhalte ich alle lebenserhalten Stoffe, selbst Flüssigkeit. Wenn Patient den ganzen Tag nichts zu tun hat, wäre Essen eine willkommene Abwechslung. Ich frage bei der morgendlichen Visite vorsichtig beim Arzt an.
»Stimmt. Gut, dass Sie fragen. Eigentlich könnten Sie wieder Nahrung zu sich nehmen. Erst einmal aber nur Suppe und Joghurt.«

Besser als nichts. Aber an diesem Tag steht eine weiteres Highlight bevor. Schwester Andrea wird während der Verteilung der Trombosespritzen von einem Handyanruf gestört. Sieht nicht sehr erfreut aus.
»Wir ziehen um«, eröffnet sie uns anschließend. »In einer halben Stunde muss das Zimmer leer sein. Eine MRSA-Patientin wird aus der Notaufnahme auf unsere Station verlegt.«
»Was ist dieses MRSA?«, frage ich.
»Eine antibiotikumsresistente bakterielle Infektion.«
»Fängt man sich vor allem in Krankenhäusern ein. Das ist kein Kindergeburtstag«, weiß Zimmernachbar Götel. Er wird heute entlassen, worüber er sichtlich froh ist.
Ich schlucke erst einmal. Selbst James versteht trotz fehlender Sprachkenntnisse, dass diese Erkrankung uns alle gefährden könnte. Er hält sich den Hals und bettelt »Schwester, Smörtsmiddel.« Kriegt er auch.
James wird in seinem Bett in den Nachbarraum geschoben. Ich darf mit meinem Chemikaliengalgen selber rüber schleichen. Ein schickes Sechs-Bett-Zimmer erwartet uns. Wird immer besser. Zum Glück ist nur ein Bett belegt.
»Hallo, ich bin der Eduard«, stellt sich ein Mann in meinem zarten Alter vor. »Ich musste vor einem halben Jahr meinen Nabeldurchbruch operieren lassen. Reine Routine. Dabei hat mir der übermüdete Chirurg den Darm angeschnitten. An 3 Stellen. Mittlerweile bin ich neunzehn Mal nachoperiert worden. Sie schaffen es nicht, mich wieder zusammenzuflicken.«
»Kunstfehler?«
»Meine Schuld. Ich habe wie jeder unterschrieben, dass Fehler bei der Operation passieren können. Die Ärzte meinen, es wäre mein Problem. Aber aus Kulanz behandeln sie mich weiter.«
Mir wird anders. Vielleicht es doch besser, den Krankenhausaufenthalt Drogen vernebelt vorbeigleiten zu lassen, als immer neue Schauerlichkeiten hören zu müssen. Es scheint genauso wichtig zu sein, das Krankenhaus zu überleben, wie die ursprüngliche Krankheit.

Das Essen wird aufgetischt. Pünktlich erscheint James' Frau. Die kümmert sich wirklich liebevoll um ihren Mann. Während James genussvoll einen Gyrosteller verspeist, verstaut sie all die mitgebrachten Fressalien.
»Mein James, war ein Kerl wie ein Baum. Er hat hundertzwanzig Kilo gewogen. Und heute? Ein Häufchen Elend, das gerade einmal fünfundneunzig auf die Waage bringt.« Ich nicke verständnisvoll.
»James, ich war heute bei der Grundeigentümerversammlung. Da gab es Braunkohl und das Bier, das du immer so gerne trinkst. Da habe ich für dich etwas abgezweigt. Kannst heute Abend in dein Nachttischfach schauen. Deine Hähnchenkeulen sind in der Tüte vom Metzger.«
»Jetzt essen«, röhrt James, denn der Gyrosteller ist bereits verputzt.

Eduard bekommt ebenfalls Suppe, die augenblicklich in einen seiner drei Katheder-Beutel läuft.
»Ich esse nur, um nicht aus der Übung zu kommen«, grinst er. Seine gute Laune ist angesichts der gesundheitlichen Lage bewundernswert.

Nun widme ich mich meinem Essen. Ich habe Spargelcremesuppe bestellt. Die schmeckt eigentlich immer. Ich hätte noch Zucchini-, Tomaten- oder  Gemüsemixsuppe wählen können. Aber ich bleibe noch ein paar Tage hier.
Ich nehme den ersten Löffel und unterdrücke den Impuls, alles wieder zurück zu spucken. Was ist denn das? Ein schleimiger, versalzener Chemiemix, der noch nicht einmal neben einem Spargel im Lager gestanden hat.
Zum ersten Mal während meines Aufenthalts drücke ich die Klingel. Nach 10 Minuten kommt Pfleger Markus.
»Und?«, fragt er gereizt.
»Ich bin eigentlich nicht besonders wählerisch, aber dieses Zeug kriege ich nicht runter. Das hat mit Gemüsesuppe nichts zu tun.«
Er blickt mich mitleidig an. »Sie sind wohl einer von diesen ganz schwierigen Patienten. Was erwarten Sie denn? Das ist ein Krankenhaus. Noch nie einen Fernsehbericht über Verpflegung in Krankenhäusern gesehen? Vollstes Verständnis. Am besten schmeckt meiner Meinung nach die Zucchinisuppe. Da ist natürlich auch kein Gemüse drin. Die schmeckt nach irgendwas und ist grün. Aber wie gesagt: Die lässt sich noch so gerade essen.«

Ich verzichte und bitte darum, wieder an den Ernährungstropf angeschlossen zu werden. Lehnt er ab. Innerlich entwickle ich Aggressionen. Vor allem, weil der Duft von James‘ Braunkohl zu mir rüber zieht. Ich überlege: Seine Frau ist nach Hause gefahren. Ich bin selbst im momentanen Zustand stärker als ein fast Achtzigjähriger. Da könnte ich doch… Nein, ich schäme mich vor mir selber für meine kriminellen Gedanken.

Unsere WG bekommt Zuwachs. Ein hamburgerisch sprechender Dialysepatient mit einem altersbefleckten Gesicht. Dabei ist er gerade mal fünfzig, wie er sofort erzählt. So stelle ich mir Methusalems Großvater vor. Wir geraten gleich aneinander. Da er permanent niest, sage ich »Gesundheit, da hat die Erkältung Sie aber schwer erwischt.« Ich dachte, das wäre freundlich. Denkt er aber nicht.
»Sind Sie komplett verrückt. Das ist doch keine Erkältung! Das liegt an den Wassertabletten. Erkältung, sowas Bekloppten habe ich noch nie gehört. Gehen Sie mir weg, Sie Besserwisser.«
Im Geiste erkläre ich unsere Freundschaft für beendet, bevor sie begonnen hat. Als nächstes beehrt uns Arno.

»Ich bin Epileptiker, dreißig Jahre an der Nadel und HIV positiv. Ich will hier meinen Magen durchchecken lassen.«
Alle denken dasselbe. Ein Junkie auf kaltem Entzug. Das könnte Probleme geben.
»Woher weißt du denn, dass du HIV positiv bist?«, fragt schließlich Eduard.
»Ich hatte so eine Fixerfreundin. Mit der habe ich mal aus Versehen gepoppt. Und irgendwann im Krankhaus haben mir die Ärzte gesagt, Herr Pohl, Sie haben da was. Kein Ding.«
»Hast du es mit Methadon probiert?«
»Ach, nö. Das mag ich nicht. Schließlich kann ich nur einen Tod sterben, da ist es egal woran.«
»Ich mag euch Brüder nicht. Ihr seid Abschaum«, keift der Hamburger neben mir.
Arno schaut nur stoned aus der Wäsche. Dann erblickt er James‘ Braunkohl. »Ich habe noch überhaupt nichts gegessen. Kann ich etwas abhaben?«
»Herkomm, ich geb dir«, strahlt James. Mensch, hätte ich nur eher gefragt. So schaufelt sich Arno den Rest von James‘ Nachtisch hinter die Kiemen und staubt noch eine Hähnchenkeule ab. Dann geht er rauchen.

Zum Abendessen bekomme ich Milchsuppe. Riecht ekelerregend. Arno raucht noch immer draußen in der Kälte. Meine Chance.
»Hast du vielleicht noch eine Hähnchenkeule übrig, James?«
»Ich Smörtsmiddel, du chicken.«
Ich tausche gern. Auch wenn ich ein schwieriger Patient bin, ist für einen Moment meine Welt wieder in Ordnung. Zum Nachtisch leere ich ein Bier. So lässt es sich selbst im Oststadt-Krankenhaus aushalten.

Mittwoch, Dezember 12, 2012

Ein schwieriger Patient 2



Ich bin wirklich ein schwieriger Patient. Vielleicht liegt das an meinen westfälischen Wurzeln. Ich bin ein ungeselliger Typ, der gern für sich alleine in den Untiefen seiner Gedanken rumwatet. Natürlich liebe ich meine Familie über alles. Wenn ich meine Frau sehe, geht für mich die Sonne auf. Der Anblick meines Sohnes lässt mich heller strahlen als ein japanisches Atomkraftwerk. Das reicht mir allerdings schon. Natürlich schlürfe ich gerne in Autorenkollegen Kerschkamps Kellerbar süffigen Rotwein oder erörtere mit Joe in Charlies Eck die weltpolitische Lage. Aber ein Dreibettzimmer ist definitiv mit 2 Personen überbelegt. Hätte ich nur die Zusatzversicherung für ein Einzelzimmer abgeschlossen.

Ich muss allerdings zugeben, dass Herr Götel ein feiner Kerl ist. Vor seiner Pensionierung hat er als Braumeister bei Herrenhäuser die Qualität des besten Hannöverschen Bieres sichergestellt. Ein wichtiger Job. Nun spielen seine Nieren verrückt, was aber nicht an übermäßigem Biergenuss liegt. Er trinkt nämlich nur Rotwein.

Schwierigkeiten habe ich eher mit James. Der stammt aus der Karibik, hat die erste Hälfte seines Lebens in London verbracht, die zweite in Hannover. Leider spricht er ein für mich unverständliches Deutsch. Daher probiere ich es mit Englisch. Er schaut mich erstaunt mit seinen braunen Rehaugen an, als hätte das Krankenhausbett zu ihm gesprochen. Okay, Englisch ist auch nicht sein Ding. Ein armer Tropf. Schwaches Herz, versagende Nieren, astronomische Zuckerwerte. Dennoch verspeist er den ganzen Tag Hähnchenkeulen, die ihm seine Freu mitbringt, damit er wieder zu Kräften kommt. Ich hingegen erhalte nach 3 Operationen in 4 Tagen und einer Woche Intensivstation nur einen intravenösen Chemiemix.
»Jetzt gibt es Lecker-Lecker, Herr Bresser«, begrüßt mich Schwester Bonnie, als sie eine neue Lösung an meinen Chemikaliengalgen an klemmt. Nur weil ich krank bin, muss sie nicht in Baby-Sprache mit mir schnacken.
»Ich nehme Pommes Currywurst mit ein wenig Majo. Dazu ein Pils.«
Sie schaut mich mitleidig an. Und James‘ Hähnchenkeulen duften. Hmm. Das nehme ich ihm aber nicht übel. Anstrengend hingegen sind seine permanenten Rufe nach dem Pflegepersonal. Besonders in der Nacht.

»Schwester! Ich Smörtsmiddel.«
»Bitte?«
»Er möchte Schmerzmittel«, übersetze ich um 4 Uhr morgens gerne. James entdeckt in Nacht auch immer neue medizinische Notlagen. Er verlangt nach einem Ohrenarzt, einem Hautspezialisten oder duscht ganz einfach zu ungewöhnlichen Tages- bzw. Nachtzeiten. Und bis auf mich versteht ihn keiner. Das schlaucht ganz schön. Er unterstellt dem Pflegepersonal, seine Anliegen absichtlich zu ignorieren. Ein durchaus begründeter Verdacht, schließlich lässt sich niemand gerne als »Arschloch« oder »Bastard« titulieren. Nur weil die Dialyseabteilung nicht um kurz nach Mitternacht für James geöffnet werden kann. Faulpelze, pflichte ich ihm bei.

Der Stress geht los, als Steffi mich besuchen kommt. Sie wirkt blass und übermüdet. Kein Wunder, berufliche Selbstständigkeit und schulpflichtiges Kind  sind anstrengend genug, und jetzt der Mann im Krankenhaus on top. Das kann keiner brauchen.

Steffi holt ein Notizbuch aus der Tasche.
»Als ich gestern aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen bin, musste ich bis dreiundzwanzig Uhr telefonieren. Grüße von deiner Mutter, deinen Schwestern, Tante Trudi und Onkel Ingo, Kerschkamp, Joe, den Wiemers, meiner Mutter, meiner Schwester, Gerda und Hans-Wilhelm sowie den Schneiders.«
»Oh, danke. Wer sind Gerda und Hans-Wilhelm?«
»Deine Cousine zweiten Grades aus Extertal.«
»Die haben uns einmal besucht. Da war ich 4.« Verzweifelt versuche ich mich an ein Gesicht zu erinnern.
»Deine Mutter hat sie angerufen. Gerda ist doch Krankenschwester. Die war ganz entsetzt, wie sie mit dir hier umspringen.«
»Ist doch ganz okay. Mir geht es den Umständen entsprechend gut«, beteure ich.
»Aber es könnte dir besser gehen, sagt Gerda. Sie wird dich besuchen und die Ärzte richtig auf den Pott setzen.«
Mühsam richte ich mich auf.
»Ich habe keine Kraft für Streitigkeiten. Ich muss mich erholen.«
»Die Wiemers, Onkel Ingo und Joe wollen dich auch besuchen. Joe trinkt zwar nicht mehr, aber dir will er eine Kiste Herrenhäuser ins Krankenhaus schmuggeln. Onkel Ingo möchte dir auf der Ukulele indische Gesundheitsmantras vorspielen. Dann wärst du sofort geheilt. Die Wiemers denken, eine Partie Mensch ärgere dich nicht täte dir gut.«

»Keine Besuche. Und wenn, dann für höchstens eine halbe Stunde«, stöhne ich. »Ich brauche wirklich nur Ruhe.« Da sage ich zwar immer, wenn wir irgendwo eingeladen sind, aber diesmal stimmt es wirklich. Sonst besuchen mich die meisten dieser Leute auch nicht. Warum jetzt, wo ich noch weniger Gesellschaft gebrauchen kann als sonst. Steffi verspricht, sich fünf Stunden freizuschaufeln, um alle wohlmeinenden Verwandten und Bekannten über die Besuchsregelung zu informieren. Ich bin sehr dankbar.

Leider bleibe ich nicht lange alleine.
»Halli, hallo, hallöle. Wie geht es denn unserem armen Patienten?« Dieser Flummi im knallgelben Kleid könnte Gerda sein. Hans-Wilhelm, ein komplett schwarz gekleideter Gothic mit ausrasierter linker Scheitelhälfte, folgt ihr bedächtig. Leider bin ich zu sehr geschwächt, um auf der Stelle zu flüchten.
»Ich Smörtsmiddel, Schwester«, stöhnt James.
»Sie Armer, werden Sie hier nicht richtig versorgt? Bei uns Extertal wären Sie besser aufgehoben.« Gerda öffnet die Zimmertür und brüllt »Schwester, kommen Sie doch endlich!« in den Flur.
»Was denn?«, fragt Schwester Bonnie, nur leicht gereizt.
»Der Mann stirbt vor Schmerzen. Ich bin Kollegin aus Extertal. Da kümmern wir uns um unsere Patienten.«
»Herr Semisanan hat erst vor einer halben Stunde Medikamente bekommen. Seien Sie beruhigt. Es ist alles gut.«
»Unmöglich«, flüstert Gerda Schwester Bonnies Rücken hinterher.

»Leben kommt, Leben geht«, murmelt Hans-Wilhelm. »Die Wahrheit ist auf dem Friedhof.«
»Hans, nu lass mal«, maßregelt ihn Gerda. Aus unerfindlichen Gründen fühle ich mich wesentlich schlechter als heute Morgen.
»Nenn mich Evil Darkness. Mein alter Name liegt in der Gruft.« Hans kann auch laut, wundere ich mich.
»Werd nicht komisch. Außerdem sind wir wegen Micha hier.«
Ich stöhne demonstrativ auf. »Ich bin sooooo müde. Außerdem schmerzt mein Bauch. Längeren Besuch halte ich nicht aus.« Das ist sogar die Wahrheit.
»Ganz normal«, Gerda klopft mir auf den Bauch, was einen weiteren Schmerzensschrei hervorruft. »Entschuldige, mein Lieber. Das hätte mir als Schwester nicht passieren dürfen. Jedenfalls ist es bei so einer schwierigen Operation kein Wunder, dass du geschwächt bis. Immerhin bist du knapp dem Tod von der Schüppe gesprungen.«
»Ich beneide dich. Wie schaut der Tod aus?«, fragt Evil Darkness.
»Nicht, wie man sich vorstellt. Eher wie ein Hippi. Sehr bunt, sehr ungepflegt. Er hat Yellow Submarine gepfiffen«, behaupte ich.
 »Nicht wahr!«, staunt Hans.

»Nun wollen wir die Caféteria besichtigen. Kommst du mit?«, fragt Gerda.
Ich zeige auf die Schläuche, die meinen Körper verlassen.
»Dann trinken wir ein Käffchen mit auf dich, Cousin.«
Sie verlassen unser Zimmer. James blickt mich fragend an. »Verrückte?«
»Bauern aus Ostwestfalen. Ganz schlimm Verrückte. Hast du noch Schmerzmittel übrig?«
Hat er. Damit ist alles leichter zu ertragen.

Ich telefoniere mit Steffi. Ab sofort empfange ich keinerlei Besuche am Krankenbett. Außer den inneren Familienkreis, das müssen die anderen aber nicht wissen. Ich bin halt ein schwieriger Patient.

Dienstag, Dezember 11, 2012

Ein schwieriger Patient



Gesundheit ist mir wichtig. Zumindest seit drei Monaten. Da erzählte mein Kumpel Joe in Charlies Eck, dass er zu einer Heilpraktikerin ginge. Fand ich erst einmal seltsam.
»Schau auf meinen Kopf«, sagte Joe. Tatsächlich. Wo vor vierzehn Tagen noch eine kahle Steppe gähnte, sprossen nun braune Härchen.
 »Was ist passiert?«, fragte ich. »Ist das ein Toupet?«
»Von wegen. Ich bin zu Sibylle Wägrich, einer Heilpraktikerin, gegangen. Die hat meine Ernährung umgestellt, gibt mir homöopathische Medikamente und motiviert mich. Seitdem fühle ich mich dreißig Jahre jünger.«
»Ha«, sage ich. »Und trotzdem haust du dir die Hefeweizen rein? Oder gehören die zur Therapie?«
»Naturtrüber Apfelsaft. Frag Charlie. Alkohol gehört meiner finsteren Vergangenheit an. Nun lebe ich im Licht.«
Unser Stammtisch endete kurz darauf. Joes Licht schien mir einfach zu hell.

»Du bist einfach nur neidisch«, belehrte mich meine Frau.
»Worauf neidisch? Ich habe noch alle Haare«, protestierte ich.
»Und deine Geheimratsecken? Außerdem schadet dir eine gesündere Lebensweise nicht. Du warst schon fitter.«
Da hat sie zweifellos recht. Also vereinbare ich einen Termin mit Sybille. Bereits eine Woche später gehören Alkohol, Nikotin und Süßigkeiten auch meiner finsteren Vergangenheit an. Fleisch, Kaffee und Rockkonzerte meide ich. Ebenso anregende Tees,  Gekochtes und Punkkonzerte. Dafür trinke ich nach Kuhmist schmeckende Aufgussgetränke, verschlinge Rohkost und lausche CDs mit rauschenden Flüssen. Besonders gut gefällt mir die Donau. Klingt nach einem harten Programm, ist es auch. Dennoch fühle ich mich besser. Bis gestern.

In der Nacht krampft sich mein Bauch zusammen, gleichzeitig wird mir übel. Am Morgen drauf ist die Übelkeit verschwunden. Allerdings schmerzt der Bauch, wenn ich mich bewege. Also bleibe ich erst einmal im Bett liegen. Um sechzehn Uhr kommt unser Sohn nach Hause.   
»Wie lange willst du noch liegenbleiben?«
»Bis es mir besser geht.«
»Wann geht es Dir besser?«
»Wenn der Bauch nicht mehr schmerzt.«
»Du liegst bereits seit gestern Abend im Bett«, stellt Marten fest. »Vielleicht solltest du zu Sybille gehen.«
Nein, nicht zu Sybille. Wenn ich trotz ihrer Rosskur krank werde, zieht sie härtere Seiten auf. Das hat sie mir bereits angekündigt. Ich mag mir nicht ausmalen, wie diese aussehen mögen.
»Bei akuten Problemen ist ein traditioneller Mediziner besser. Der weiß was er tut und therapiert nicht wild drauf los«, behaupte ich.
»Dann geh hin«, beendet Marten das Gespräch und widmet sich lieber seiner Legoeisenbahn.

Ich suche die Adresse eines Allgemeinmediziners aus meiner Nähe im Internet, ziehe mich an und schlurfe los. Eine halbe Stunde später sitze ich in Dr. Maurers Behandlungszimmer. Ich schildere meine Symptome.
»Das könnte vieles sein«, stellt Maurer fest. »Geben Sie uns eine Urinprobe.«
Ich setze mich mit einem Plastikbecher auf Toilette. Es kommt nichts. Bekomme ich nun keine Diagnose?
»Alles in Ordnung?«, ruft eine Sprechstundenhilfe durch die Klotür.
»Ich kann nicht.«
»Nicht gut. Sie sind ein schwieriger Patient.«
Aha, kann ich doch nichts für.
Wieder im Sprechzimmer sagt Dr. Maurer zu mir: »Kein Problem. Allerdings sind meine Diagnosemöglichkeiten erschöpft. Bitte gehen Sie ins Krankenhaus in die Notaufnahme. Die werden Ihnen weiterhelfen.«

Kurz darauf stehe ich in der Kälte, in der Hand eine Überweisung ins Krankenhaus. Mein Buch schmerzt beim Laufen und ich tue mir selber Leid. Ich jammere etwas vor mich hin, doch kein Passant hält an und erkundigt sich nach meinem Schlechtbefinden. Es hilft alles nichts. Ich rufe mir ein Taxi und lasse mich zum Oststadtkrankenhaus befördern. Auch der Taxifahrer ignoriert meine um Mitleid bettelnden Blicke und schaut starr auf die Fahrbahn.
»Mir geht es heute nicht so gut. Bauch«, erkläre ich. »Daher muss ich ins Krankenhaus.«
»Die Roten spielen sich zurzeit eine Scheiße zusammen, was.«
»Mal schauen, ob ich den heutigen Tag noch überlebe.«
»Die sollten mit Slomka schleunigst verlängern, wenn Sie mich fragen.«
Als wir am Krankenhaus angekommen sind, gebe ich ihm kein Trinkgeld. Wenn ich mich über Fußball unterhalten will, fahre ich kein Taxi sondern gehe zum nächsten Kiosk. Idiot.

Im Krankenhaus nimmt mich Pflegeschüler Dennis in Empfang. Er stellt mir jede Menge Fragen.
»Gewicht? Größe? Krankheiten? Krankheiten in der Familie?«
Geht ihn nichts an. Er nickt nur gleichmütig. »Sie sind krank, nicht ich. Geben Sie uns eine Urinprobe.«
Nicht schon wieder. Ich sitze wieder mit einem Plastikbecher auf Toilette und fühle mich blockiert.
»Alles in Ordnung, Herr Bresser?«, schallt es durch die Tür.
»Klappt nicht«, bekenne ich frustriert. »Vielleicht kann ich was trinken? Das wäre förderlich«
»Geht nicht«, brüllt Dennis durch die Tür. »Bevor Sie operiert werden, dürfen Sie nichts trinken. Wenn Sie nicht pinkeln können, ist es nicht weiter schlimm.«
Nun weiß das ganze Krankenhaus über meine Urinierhemmung Bescheid. Super. Und wieso operieren? Sollte nicht vorher eine Diagnose gestellt werden?

Richtig. Darum kümmert sich Dr. Schmauch, ein kreidebleicher Assistenzarzt mit schulterlangen schwarzen Haaren und rumänischem Akzent. Erinnert mich an eine Dracula-Verfilmung mit Bela Lugosi. Der Mann ist mir unheimlich.
»Was genau ist Symptom?«
»Wenn ich mich bewege, fühlt sich mein Bauch unangenehm an.«
»Sie leiden Schmerzen?«
»Ein unangenehmes Gefühl, keine richtigen Schmerzen.«
»Aha.«
Dr. Schmauch tastet meinen Bauch ab. Dabei drückt er so fest, dass ich aufstöhne.
»Oho«, freut der sich. »Doch Schmerz!«
»Eher unangenehm.«
Dr. Schmauch schüttelt den Kopf. »Sie müssen entscheiden. Sonst keine Diagnose. Sie sind schwieriger Patient.«
Das höre ich heute zum zweiten Mal. Schmauch reibt meinen Bauch mit schmieriger Paste ein und führt eine Sonde über meinen Bauch. Währenddessen murmelt er grimmig vor sich hin.
»Und?«, frage ich schließlich.
»Ich sehe nichts. Spreche mit Oberarzt.«

Der steht kurz darauf an meiner Liege. Ein solariumgebräunter Sonnyboy im Jogginganzug.
»Ich bin Dr. Kaltenbach. Entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich bin eigentlich bereits im Feierabend. Wo ist das Problem?«
»Schwierig Patient. Kann nicht sagen, ob Schmerzen hat. Bei Sonographie habe ich nichts entdeckt.«
»Ich glaube nicht, dass ich mehr als du entdecke«, sagt Kaltenbach. Das macht Hoffnung. Zehn Minuten später hat auch er meinen ganzen Bauch abgetastet. Der Monitor hat nichts gezeigt.
»Gab es schon mal Probleme in Ihrer Familie mit dem Bauch?«, fragt er.
Was haben die Bauchschmerzen meiner Eltern mit mir zu tun.
»Nicht, dass ich wüsste«, antworte ich dennoch brav.
»Okay, Herr Bresser. Wir haben 2 Möglichkeiten. Wir können Ihnen auf Verdacht Antibiotika geben. Sollte aber etwas Akutes vorliegen, könnte sich ihr Zustand verschlimmern. Oder wir öffnen Ihren Bauch und schauen, was dort los ist. Das ist zweifelslos die bessere Alternative.«
Klingt beides nicht gut. Aber die Operation scheint unausweichlich.
»Eine super Entscheidung«, freut sich Kaltenbach. »Dr. Schmauch bereitet sie auf den Eingriff vor.«

Der stellt mir die gleichen Fragen, die ich bereits Pflegeschüler Dennis beantwortet habe. Vorerkrankungen, Erkrankungen in der Familie, Allergien. Wenn das so weiter geht, kann ich auf Vollnarkose verzichten. Ich werde immer schläfriger.
Dann werden mir diverse Löcher in die Arme gestochen, Blut abgezapft.
»Möchten Sie eine Scheiß-Egal-Pille?«, fragt mich Dennis.
»Ach, nö. Ich bekomme noch genug Chemie.«
Dann schiebt er mich in die Anästhesie. Unterwegs erfahre ich, dass er in Vahrenwald zusammen mit seiner Freundin lebt. Die heißt Andrea und arbeitet als PTA. Er fragt mich noch diverse Dinge über meine Frau, meinen Sohn und unsere Wohnung. Wie in Trance antworte ich, obwohl ich nicht verstehe, warum meine Antworten für die Operation wichtig sind.
In der Narkosestation muss ich kräftig durch eine Sauerstoffmaske atmen. Währenddessen tropft eine durchsichtige Flüssigkeit über einen Schlauch in meine Vene. In meinem Kopf spielen die Beatles Sergeant Pepper. Dazu grelle Farben und haarige Pilzköpfe. Und das, wo ich die Beatles hasse.

Als ich aufwache ist helllichter Tag. Ich liege in einem Krankenhauszimmer, eine Ärztearmee umringt mein Bett. Träume ich noch?
»Da ist er wieder unter den Lebenden, der Herr..«, ein rundlicher Arzt schaut auf das Namensschild an meinem Bett. »…Bresser. Da haben Sie sich ein schönes Ding eingefangen. Blinddarmdurchbruch mit Bauchfellentzündung. Heute Abend öffnen wir Ihren Bauch erneut.« Er klopft mir jovial aufs Bein. »Mal schauen, ob da wieder alles in Ordnung ist. Kein Grund zur Panik. Manchmal muss man in solchen Fällen bis zu 10 Mal nachoperieren. Sie sind halt ein schwieriger Patient.«
Seine Gefolge nickt andächtig. 

In diesem Moment sehne ich mich nach Sybille zurück. Die fand mich nie schwierig.

Blog-Archiv