Donnerstag, Dezember 13, 2012

Ein schwieriger Patient 3



Ich esse gern. Das ist vermutlich erblich bedingt. Mein Vater hat gerne gegessen und mein Großvater, den ich nicht kennenlernen durfte, vermutlich auch. Leider ist das Oststadt-Krankenhaus eine kulinarisch befreite Zone. Zumindest für mich. Über den Tropf erhalte ich alle lebenserhalten Stoffe, selbst Flüssigkeit. Wenn Patient den ganzen Tag nichts zu tun hat, wäre Essen eine willkommene Abwechslung. Ich frage bei der morgendlichen Visite vorsichtig beim Arzt an.
»Stimmt. Gut, dass Sie fragen. Eigentlich könnten Sie wieder Nahrung zu sich nehmen. Erst einmal aber nur Suppe und Joghurt.«

Besser als nichts. Aber an diesem Tag steht eine weiteres Highlight bevor. Schwester Andrea wird während der Verteilung der Trombosespritzen von einem Handyanruf gestört. Sieht nicht sehr erfreut aus.
»Wir ziehen um«, eröffnet sie uns anschließend. »In einer halben Stunde muss das Zimmer leer sein. Eine MRSA-Patientin wird aus der Notaufnahme auf unsere Station verlegt.«
»Was ist dieses MRSA?«, frage ich.
»Eine antibiotikumsresistente bakterielle Infektion.«
»Fängt man sich vor allem in Krankenhäusern ein. Das ist kein Kindergeburtstag«, weiß Zimmernachbar Götel. Er wird heute entlassen, worüber er sichtlich froh ist.
Ich schlucke erst einmal. Selbst James versteht trotz fehlender Sprachkenntnisse, dass diese Erkrankung uns alle gefährden könnte. Er hält sich den Hals und bettelt »Schwester, Smörtsmiddel.« Kriegt er auch.
James wird in seinem Bett in den Nachbarraum geschoben. Ich darf mit meinem Chemikaliengalgen selber rüber schleichen. Ein schickes Sechs-Bett-Zimmer erwartet uns. Wird immer besser. Zum Glück ist nur ein Bett belegt.
»Hallo, ich bin der Eduard«, stellt sich ein Mann in meinem zarten Alter vor. »Ich musste vor einem halben Jahr meinen Nabeldurchbruch operieren lassen. Reine Routine. Dabei hat mir der übermüdete Chirurg den Darm angeschnitten. An 3 Stellen. Mittlerweile bin ich neunzehn Mal nachoperiert worden. Sie schaffen es nicht, mich wieder zusammenzuflicken.«
»Kunstfehler?«
»Meine Schuld. Ich habe wie jeder unterschrieben, dass Fehler bei der Operation passieren können. Die Ärzte meinen, es wäre mein Problem. Aber aus Kulanz behandeln sie mich weiter.«
Mir wird anders. Vielleicht es doch besser, den Krankenhausaufenthalt Drogen vernebelt vorbeigleiten zu lassen, als immer neue Schauerlichkeiten hören zu müssen. Es scheint genauso wichtig zu sein, das Krankenhaus zu überleben, wie die ursprüngliche Krankheit.

Das Essen wird aufgetischt. Pünktlich erscheint James' Frau. Die kümmert sich wirklich liebevoll um ihren Mann. Während James genussvoll einen Gyrosteller verspeist, verstaut sie all die mitgebrachten Fressalien.
»Mein James, war ein Kerl wie ein Baum. Er hat hundertzwanzig Kilo gewogen. Und heute? Ein Häufchen Elend, das gerade einmal fünfundneunzig auf die Waage bringt.« Ich nicke verständnisvoll.
»James, ich war heute bei der Grundeigentümerversammlung. Da gab es Braunkohl und das Bier, das du immer so gerne trinkst. Da habe ich für dich etwas abgezweigt. Kannst heute Abend in dein Nachttischfach schauen. Deine Hähnchenkeulen sind in der Tüte vom Metzger.«
»Jetzt essen«, röhrt James, denn der Gyrosteller ist bereits verputzt.

Eduard bekommt ebenfalls Suppe, die augenblicklich in einen seiner drei Katheder-Beutel läuft.
»Ich esse nur, um nicht aus der Übung zu kommen«, grinst er. Seine gute Laune ist angesichts der gesundheitlichen Lage bewundernswert.

Nun widme ich mich meinem Essen. Ich habe Spargelcremesuppe bestellt. Die schmeckt eigentlich immer. Ich hätte noch Zucchini-, Tomaten- oder  Gemüsemixsuppe wählen können. Aber ich bleibe noch ein paar Tage hier.
Ich nehme den ersten Löffel und unterdrücke den Impuls, alles wieder zurück zu spucken. Was ist denn das? Ein schleimiger, versalzener Chemiemix, der noch nicht einmal neben einem Spargel im Lager gestanden hat.
Zum ersten Mal während meines Aufenthalts drücke ich die Klingel. Nach 10 Minuten kommt Pfleger Markus.
»Und?«, fragt er gereizt.
»Ich bin eigentlich nicht besonders wählerisch, aber dieses Zeug kriege ich nicht runter. Das hat mit Gemüsesuppe nichts zu tun.«
Er blickt mich mitleidig an. »Sie sind wohl einer von diesen ganz schwierigen Patienten. Was erwarten Sie denn? Das ist ein Krankenhaus. Noch nie einen Fernsehbericht über Verpflegung in Krankenhäusern gesehen? Vollstes Verständnis. Am besten schmeckt meiner Meinung nach die Zucchinisuppe. Da ist natürlich auch kein Gemüse drin. Die schmeckt nach irgendwas und ist grün. Aber wie gesagt: Die lässt sich noch so gerade essen.«

Ich verzichte und bitte darum, wieder an den Ernährungstropf angeschlossen zu werden. Lehnt er ab. Innerlich entwickle ich Aggressionen. Vor allem, weil der Duft von James‘ Braunkohl zu mir rüber zieht. Ich überlege: Seine Frau ist nach Hause gefahren. Ich bin selbst im momentanen Zustand stärker als ein fast Achtzigjähriger. Da könnte ich doch… Nein, ich schäme mich vor mir selber für meine kriminellen Gedanken.

Unsere WG bekommt Zuwachs. Ein hamburgerisch sprechender Dialysepatient mit einem altersbefleckten Gesicht. Dabei ist er gerade mal fünfzig, wie er sofort erzählt. So stelle ich mir Methusalems Großvater vor. Wir geraten gleich aneinander. Da er permanent niest, sage ich »Gesundheit, da hat die Erkältung Sie aber schwer erwischt.« Ich dachte, das wäre freundlich. Denkt er aber nicht.
»Sind Sie komplett verrückt. Das ist doch keine Erkältung! Das liegt an den Wassertabletten. Erkältung, sowas Bekloppten habe ich noch nie gehört. Gehen Sie mir weg, Sie Besserwisser.«
Im Geiste erkläre ich unsere Freundschaft für beendet, bevor sie begonnen hat. Als nächstes beehrt uns Arno.

»Ich bin Epileptiker, dreißig Jahre an der Nadel und HIV positiv. Ich will hier meinen Magen durchchecken lassen.«
Alle denken dasselbe. Ein Junkie auf kaltem Entzug. Das könnte Probleme geben.
»Woher weißt du denn, dass du HIV positiv bist?«, fragt schließlich Eduard.
»Ich hatte so eine Fixerfreundin. Mit der habe ich mal aus Versehen gepoppt. Und irgendwann im Krankhaus haben mir die Ärzte gesagt, Herr Pohl, Sie haben da was. Kein Ding.«
»Hast du es mit Methadon probiert?«
»Ach, nö. Das mag ich nicht. Schließlich kann ich nur einen Tod sterben, da ist es egal woran.«
»Ich mag euch Brüder nicht. Ihr seid Abschaum«, keift der Hamburger neben mir.
Arno schaut nur stoned aus der Wäsche. Dann erblickt er James‘ Braunkohl. »Ich habe noch überhaupt nichts gegessen. Kann ich etwas abhaben?«
»Herkomm, ich geb dir«, strahlt James. Mensch, hätte ich nur eher gefragt. So schaufelt sich Arno den Rest von James‘ Nachtisch hinter die Kiemen und staubt noch eine Hähnchenkeule ab. Dann geht er rauchen.

Zum Abendessen bekomme ich Milchsuppe. Riecht ekelerregend. Arno raucht noch immer draußen in der Kälte. Meine Chance.
»Hast du vielleicht noch eine Hähnchenkeule übrig, James?«
»Ich Smörtsmiddel, du chicken.«
Ich tausche gern. Auch wenn ich ein schwieriger Patient bin, ist für einen Moment meine Welt wieder in Ordnung. Zum Nachtisch leere ich ein Bier. So lässt es sich selbst im Oststadt-Krankenhaus aushalten.

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