Sonntag, Oktober 10, 2010

Bestseller Kapitel 14: Ikonen, New York und der ganze normale Lebenswahnsinn



Es ist kurz vor zwölf. Ich nehme eine Dusche. Tut gut. Anschließend wechsele ich die Kleidung, die nach billigem Parfum und Fusel stinkt. Fühle mich menschlicher als am Morgen. Doch der Frust sitzt noch immer tief in allen Poren. Der lässt sich nicht so einfach wegduschen. Im Edeka kaufte ich Würstchen, Bauchfleisch und einen Sixpack Herrenhäuser. Dann wandere ich die viereinhalb Kilometer über die Leine in die Nordstadt. Die Sonne kann meine trüben Gedanken auch nicht erhellen. Der Georgengarten ist eigentlich ein fantastischer Ort zum Chillen. Erinnert an die Landschaften aus Miss-Marple-Filmen. Ist nicht so snobby wie der Große Garten von Herrenhausen, wo Familien und Hannovers feinere Gesellschaft flanieren. Der Georgengarten ist Kult für alle, die eher am Rand der Gesellschaft rumkrabbeln.
Andi und Kathrin finde ich auf einer Decke. Sehen ähnlich trübe aus wie ich. Antje baut gut gelaunt den Grill auf und schüttet Kohlen auf den Rost. Dabei summt sie Living la vida loca.
»Sweety», küsst sie mich leidenschaftlich. »Ist dein Tag genauso grandios wie meiner. Es gibt etwas Giga-Fantasto-Geiles zu feiern.»
»Naja», brumme ich. »Ich muss dir etwas erzählen. Was ist mit den Beiden los?», zeige ich auf Andi und Kathrin. »Die blicken ja drein, als seien Weihnachtsmann und Osterhase am gleichen Tag gestorben.»
Andi verdreht genervt die Augen. Erst jetzt fällt mir das Veilchen an der rechten Seite auf.
»Das ist nicht lustig. Weiß Gott nicht», faucht Kathrin.
»Sorry», sage ich. »Reiner Galgenhumor. Mein Tag war auch komplett beschissen. Was ist denn los?»
»Ich bin erledigt», spricht Andi mehr mit sich selber als mit uns.
»Bitte?»
Andi winkt ab, scheint keine Lust mehr zum Reden zu haben.
»Andi war noch immer fix und fertig, dass seine Bilder in dem Nazischuppen in Wesel gestanden haben. Da hat er sich diesen Säge gekrallt. Wir sind zu seiner WG gefahren. Turner wohnt gar nicht mehr dort. Hat sich einen Bulli für fünfhundert Euro gekauft und ist runter nach Georgien, um humanitäre Hilfe zu leisten. Da wohnen jetzt völlig strange Typen. So eine Mischung aus supercool und aggro. Konnten wir nicht einordnen. Ob das auch Studenten sind?»
»Penner. Alles Penner und Wichser», wirft Andi ein.
»Da lief die ganze Zeit der Judgement-Night-Sampler. Die haben zu Disorder von Ice-T und Slayer geposed und gegröhlt. War, this is not our war. Echt beängstigend. Der Text war auch noch falsch. Vollpfosten. Dieser Säge auch. Der war der Schlimmste. Ein komplettes Arschloch.»
»Der war früher in Ordnung. Ich schwör’s euch», verteidigt Andi.
»Ice-T ist doch okay? »¸frage ich.
»Hotte, das sind weder Metallheads noch Hip-Hopper, sondern eine ganz üble Brut. Warte doch einfach mal ab, was Kathrin noch erzählt.»
Kathrin redet sich in Rage.
»Wir kommen in das Zimmer von diesem Säge. Da hängen verschiedene Bilder mit Überschriften in Sütterlinschrift. Deutschland steh auf und so ein Zeug. Gegen Kapitalismus und Weltjudentum. Als Bettüberzug dient eine Reichskriegsfahne. White-Power-Bildschirmschoner auf dem Rechner. Alles klar? Dieser Typ ist bis in die Haarspitzen Nazi, genau wie seine Kumpel. Andi hat ihn gefragt, ob er weiß, wo er seine Bilder hingebracht hat. Da meinte er, das wäre doch eine geile Location. Andi wäre jetzt in der Szene eine Ikone.»
»Was?», kann ich es nicht fassen. »Bei den Nazispacken?»
Andi nickt finster.
»Die haben eine neue Richtung», erklärt uns Kathrin. »Autonome Nationalisten. Die kannst du nicht von Linken unterscheiden. Selbe Klamotten, selbe Musik, politische verbreiten die nur Hass. Säge meinte, es wäre im Guerilla-Krieg vorteilhaft, wenn sie nicht wie Nazis aussehen. So sind sie schlagkräftiger. Die besuchen auch Ausbildungscamps für Nahkämpfer. Ganz schrecklich. Und der Höhepunkt ist das hier.»
Sie drückt mir ein Poster in die Hand.
„Ausstellung mit zeitgenössischer völkischer Kunst in Barsinghausen. Im Jugendzentrum Bunker stellen sieben Künstler aus, die ihr Schaffen dem Kampf gegen den internationalen Kapitalismus, Globalisierung und den Chimäre einer multikulturellen Gesellschaft gewidmet haben. Eines der Zugpferde der Bewegung ist der neunundzwanzigjährige Andreas Bohemian, der sein Schaffen der Philosophie seines Idols Ernst Zündel widmet.“
»Was soll das und, wer ist Ernst Zündel?», frage ich verwirrt.
»Dieser Säge ist geistig komplett verstrahlt. Anscheinend waren er und Andi stoned, als sie sich mal unterhalten haben. Er hat Andis Objekte bei seinen Nazikumpeln in Wesel ausgestellt. Die waren begeistert. Da hat er Gelder aufgetan und weitere Bilder von Andi gekauft, die in einer kleinen Galerie in der Nordstadt ausgestellt wurden. Irgendwie hat er geglaubt, dass sie beide auf der nationalistischen Welle schwimmen. Oder ihm war egal, was Andi dazu sagt. Diese Typen spielen auch Ärzte und Slime, alles Bands, die diesen Nazischrott ablehnen. Und Ernst Zündel ist ein Holocaust-Leugner, der im Knast sitzt. Eine ganz üble Bazille. Andi hat Säge deutlich die Meinung gegeigt, da wurde dieser Typ handgreiflich. Er hat ihm ein blaues Auge verpasst. Dann sagte er, Andi soll sie doch verklagen. Da seien schon ganz andere dran gescheitert. Wenn er nicht mitzieht, machen ihn Säges Kumpels platt»
»Diese Plakate hängen in der Uni aus, diese Plakate hängen in der Limmer Straße, die hängen an Litfass-Säulen. Ich bin doch jetzt komplett unten durch. Das glaubt mir doch keiner, dass ich benutzt werde und mit diesem Dreck nichts zu tun habe.»
Andi schluckt ein paar Pillen, steckt sich eine Kippe an. Sieht blass aus, als hätte er schon lange nicht mehr geschlafen. Er tut mir leid.

Mir fällt es schwer, tröstende Worte zu finden. Eine üble Sache. Gerade in Linden werden solche Plakate genau angesehen. Und dann ist er wirklich Bodensatz. Muss sich eine neue Stadt suchen. Ich sehe keinen Ausweg. Aber ich kann mir nicht mal selber helfen, wie sollte ich dann meinen Freunden Perspektiven aufzeigen. Ich klopfe ihm auf die Schulter, um meine Solidarität zu demonstrieren. Keine Reaktion.
»Jetzt lasst uns feiern. Da können wir momentan nichts dran ändern», klatscht Antje in die Hände. Ich reiche ihr mein Fleisch, doch irgendwie ist keiner in Fetenstimmung.
»Also, was ich euch sagen wollte», leuchten Antjes Augen, während sie die Würste auf dem Grill platziert. »Ich habe ein Stipendium in New York bekommen. Ist das nicht der Hammer, Sweety?»
Ich fühle mich, als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wie sah mein morgendliches Fazit aus: Neben all der Scheiße an den Hacken, habe ich wenigstens Antje.
»Ihr sagt gar nichts. Freut ihr euch denn nicht? », fragt Antje noch immer strahlend.
Ich setze mich neben Andi und Kathrin und nehme ein Bier.
»Doch, toll. Wann geht es los?», versuche ich mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»In zwei Monaten. Oh, da muss ich verdammt viel organisieren. Neue Wohnung finden, alte auflösen. Mit der neuen dürfte allerdings einfach sein, ich kann da auf dem Campus wohnen. Ich freu mich so. Und mein Schatz besucht mich alle paar Monate.»
»Ich glaube, du überschätzt meine finanziellen Fähigkeiten», fällt mir wenig zu dieser optimistischen Sicht ein.
»Soviel kostet ein Flug nach New York auch nicht mehr.»
»Wie viel denn?»
»Na, so vierhundert um den Dreh»¸wird sie zaghafter.
»Und einen Rückflug muss ich auch buchen. Um mir das leisten zu können, brauch ich einen Job als Investmentbanker an der Frankfurter Börse. Träum weiter, Chérie.»
»Was bist du denn so giftig? », fragt sie enttäuscht. »Du hast doch jetzt einen Bombenjob bei dieser Produktionsgesellschaft.»
»Dazu muss ich noch etwas erzählen. Bitte setz dich.»
Antje folgt. Das Fleisch brutzelt unterdessen munter weiter auf dem Grill. Aber das stört keinen. Kathrin brütet vor sich hin, Andi ebenso, unterbrochen von Griffen in die Hosentasche, aus der er seine kleinen Muntermacher oder Baldrianpillen herausholt.
Ich lege die Karten offen auf den Tisch, verschweige nicht ein schmutziges Detail. Die Mädels starren mich mit offenem Mund an. Andi starrt immer blasser in die Weite des Parks.
»Warum hast du mich angelogen, Horst? Das finde ich total daneben», faucht Antje. Sie wirkt enttäuscht, auch ein wenig kalt.
»Ich habe mich nicht getraut. Ich wollte gut aussehen, wollte, dass du stolz auf mich bist.»
»Alter, war ich doch auch. Wir haben in der kurzen Zeit, in der wir zusammen sind, so viel durchgemacht. Aber dein fehlendes Vertrauen kotzt mich an. Und wenn es dir Spaß macht, mit Nutten zu ficken, bitte. Tut dir keinen Zwang an.»
Sie schmollt. Kein Wort darüber, dass dieser Gangster Pierre mich erpresst. Ich bin auch enttäuscht.
»Ist doch ein Hammer, dass mich der Kerl unter Druck setzt. Einfach so», wende ich mich an alle.
Kathrin und Antje schauen mich an, als hätte ich etwas verbrochen. Andi starrt apathisch auf den Boden, das interessiert ihn alles nicht.
»Wer weiß, ob du mit dieser Nutte gepoppt hast. Kannst dich ja an nichts erinnern. Aber das ist mir so was von egal», zischt Antje. Klingt aber nicht, als würde sie das kalt lassen.
»Mensch, Schatz, ich bin da doch nur hingegangen, um die Konzepte zu besprechen.»
»Kennst du den Film Crossroads über den Blues-Sänger Robert Johnson? Der hat seine Seele dem Teufel verkauft, damit er ein erfolgreicherer Musiker wird. An den erinnerst du mich. Für deinen Traum tust du alles. Lässt dich mit dem letzten Pack ein. Müsste dir doch klar sein, dass es in der Pornobranche nicht wie im Blümchenladen zugeht», sagt sie verzweifelt.
»Vielleicht war ich etwas naiv. Aber Pierre ist Beas Freund, und die ist super korrekt. Da habe ich ihm vertraut», versuche ich mich zu verteidigen.
»Etwas naiv. Du bist die personifizierte Blauäugigkeit. Manchmal fast dumm.»
Das geht zu weit. Als ob ich es nicht schwer genug hätte, beleidigen braucht sie mich nicht.
»Wenn ich so dumm bin, frage ich mich, was du an mir findest. Aber Madame rauscht auch bald über den großen Ozean ab. Respekt.»
»Ich verfolge meine Ziele, ohne mir gleich Freier zu suchen, mit denen ich für Kohle ins Bett hopse. Aber das scheint nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen», redet sie sich in Rage.
»Wenn wir uns gegenseitig so egal sind, können wir uns auch trennen», sage ich kühl in der Hoffnung, dass sie mir vehement widerspricht.
»Ja, vielleicht ist es das Beste. Ich fühle mich von dir hintergangen.»
Scheiße.
»Also sind wir auseinander? », frage ich verunsichert.
Antje überlegt nur kurz.
»Ja, hat ja anscheinend keinen Zweck mit uns.»
Jetzt kann ich es mir schenken, von den Schwierigkeiten mit der Verlegerin zu erzählen. Mein Leben rollt unaufhaltsam dem Abgrund zu.
»Andi, komm wach auf», streichelt Kathrin Andis Kopf. Mein Kumpel ist zusammengesunken, liegt verkrümmt auf der Decke, Speichel fließt aus seinem Mund.
Antje und ich beugen uns ebenfalls über ihn, er atmet stoßweise, aber schwach.
»Hat er sich heute morgen schlecht gefühlt?», fragt Antje ratlos.
»Ich weiß nicht, machte eigentlich einen ganz normalen Eindruck. War nur total deprimiert wegen der Geschichte mit Säge», weint Kathrin. »Was ist denn los, Andi?»
Doch Andi antwortet nicht. Sein Kopf dreht sich etwas nach links, seine Augen sind geschlossen.
»Wir müssen sofort einen Krankenwagen rufen, der stirbt uns sonst hier weg», gewinnt Antje als erstes die Fassung wieder. Frauen sind zupackender als Männer.
»Hat jemand sein Handy dabei?»
Damit kann ich dienen, mich wenigstens etwas nützlich machen.
»Bitte schicken Sie sofort einen Krankenwagen in den Georgengarten gegenüber vom Nordstadtspielplatz. Ein Freund von uns ist kollabiert. Nein, keine Ahnung warum. Vielleicht die Hitze. Kommen Sie schnell.»
Kathrin legt Andis Kopf auf ihren Schoß, streichelt ihn, flüstert ihm beruhigende Worte zu. Minuten gerinnen zu Stunden. Wir sitzen wie gelähmt. Ich stehe einmal auf und kippe Bier über den Grill. Das Fleisch ist mittlerweile verkohlt. Ein rundum gelungener Tag. Durchtränkt mit Melancholie wie ein End-of-Green-Song.
Schließlich kommen die Sanitäter. Laufen viel zu langsam mit ihrer Bahre über den Rasen. Ob ihnen klar ist, dass es hier um Leben und Tod geht.
»Hallo», grüßen sie lax. Andi wird kurz untersucht, dann haben sie es auf einmal eilig.
»Ein Junkie. Wenn wir Pech haben schafft er es nicht mehr», spricht er in sein Funkgerät.
Sie tragen Andi rennend zum Auto. Kathrin läuft ihnen nach und fragt atemlos »Wo bringen Sie ihn denn hin?»
»Krankenhaus Siloah. Notaufnahme. Drücken Sie die Daumen. Das wird eine ganz knappe Angelegenheit.»
Wie erschlagen sinkt Kathrin auf den Bürgersteig, Antje und ich schleichen langsam zu ihr hinüber.
»Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte», murmele ich und lege tröstend meinen Arm um Kathrins Schulter.
»Na», sagt Antje schnippisch. »Wieso wundert dich das? Andi steht doch ständig unter Chemie. So lang kennen wir uns nicht. Aber da hat er ständig was genommen. Irgendwann kolloabiert der Body.»
»Entschuldige, dass ich mich um meinen Freund sorge», fauche ich.
»Mach ich auch», erwidert Antje. »Dennoch: Sein Lifestyle ist zu intensiv. Too much is too much.»
»Er ist Künstler», verteidige ich Andi. »Er braucht den Kick als Inspiration.»
»Drogen sind scheiße», meldet sich Kathrin zu Wort.
»Ich bin auch Künstlerin», stöhnt Antje. »Dröhne ich mich deshalb dauernd zu? Es ist okay, sich ab und an zu kicken. Aber sich von der Chemie versklaven zu lassen, finde ich abartig. Ich habe keine Lust, mein Leben wie Jim Morrison oder Hans Fallada von Drogen und Alk bestimmen zu lassen.»
Kathrin weint.
»Könnt ihr eure blöden Diskussionen nicht später führen. Andi ringt mit dem Tod, und ihr führt öde Grundsatzgespräche», steht sie auf. »Ich fahre ins Krankenhaus. Ich will ihm nah sein.»
Antje und ich schauen ein wenig verlegen drein.
»Ich komme mit», erkläre ich. »Lass uns ein Taxi nehmen. Ich zahl das.»
»Oh, von der Pornoindustrie gesponsert. Nein, danke», zischt Antje.
»Eure Streitereien kotzen mich an», schreit Kathrin wütend und läuft los.
Ich renne ihr nach.
»Warte», hole ich sie ein. Antje kommt langsam nach.
Ich würde mich am liebsten bei ihr entschuldigen. Mir kommt der Verdacht, dass ich ganz schöne Scheiße gebaut habe. Aber was hätte ich anderes tun können? Die Ereignisse haben sich überschlagen und mich überrollt. Etwas Verständnis für meine Situation würde mir gut tun. Antje blickt an mir vorbei auf Kathrin.
»Du hast Recht, Süße», sagt sie. »Begraben wir die Streitaxt.» Sie reicht mir die Hand, schaut mir aber nicht in die Augen. Zögernd ergreife ich sie.

Dann nehme ich das Handy und rufe ein Taxi. Der Fahrer, ein Typ Ende vierzig mit Zopf und wallendem Vollbart, hat Quasselwasser getrunken.
»Seid ihr Studenten?», fragt er. Keiner antwortet.
»Ich studiere Sozialpädagogik. Hatte mehrfach Pech, dass die Studienordnung gewechselt hat. Jetzt fressen mich die Gebühren auf. Was macht ihr so, um euer Recht auf Bildung zu finanzieren?»
»Horst schreibt Pornos», kann es sich Antje nicht verkneifen. Kathrin und ich schauen sie genervt an.
Finde ich spießig, dass sie auf dieser Geschichte rum reitet.
»Er ist aber auch kein Student sondern Autor», fügt sie hinzu. Macht es nicht besser.
»Ich schreibe auch», erklärt der Taximensch. »Politische Gedichte. Ich bin übrigens der Fred. Habe leider noch keinen Verleger gefunden. Wollt ihr eins hören?»
Wollen wir nicht, aber das stört ihn wenig.
»In den Keller gepfercht hause ich. Auf der Flucht vor Hatz 4. Kriminalisiert, maskiert, demotiviert und frustriert. Der Blick aus dem Fenster führt ins Nichts. Habe keine Liebe zu erwarten von dieser Fucking Society.»
Erwartungsvoll dreht er sich um.
»Wie findest du das? Ist nur ein Auszug. Ey, Alter. Hast du vielleicht Connections zu einem Verleger?»
Ich überlege kurz ihm die Ahmert zu empfehlen, aber so gehässig bin ich doch nicht.
»Nein, für Lyrik kenne ich keinen Interessenten», sage ich.
»Schade, wäre besser als Autor die Kohle direkt aufs Konto zu bekommen, als sich Tage und Nächte im Taxi um die Ohren zu schlagen.»
Die Leute haben bunte Illusionen vom Autorenleben, denke ich. Wie ich bis vor kurzem auch.
Plötzlich wird Fred aggressiv.
»Finde ich echt Scheiße von dir, dass du mir nicht helfen willst. Naja, so ist das in Deutschland. Jeder ist sich selbst der Nächste. Wenn ich irgendwann super erfolgreich bin, kenn ich dich auch nicht mehr.»
Hallo? Wir sind fünf Minuten in seinem Taxi gefahren. Wenn ich nicht voll Sorge um Andi wäre, könnte ich laut loslachen. Das Leben ist schon skurril.
»Tut mir Leid», murmele ich, um ihn nicht zu reizen.
Wir erreichen den Parkplatz vor dem Krankenhaus. Ich drücke ihm die sieben Euro in die Hand, die das Taxameter anzeigt.
»Viel Glück. Nimm es mir nicht übel, aber ich kann wirklich nichts für dich tun», versuche ich etwas Nettes zu sagen. Doch er schweigt und verzieht patzig das Gesicht. Antje und Kathrin verlieren kein Wort, laufen zum Eingang des Krankenhauses. Drei Männer sitzen in Jogginganzügen auf einer Bank vor der Pforte, rauchen und kloppen Skat.
Siloah ist idyllisch an einem Kanal zur Leine gelegen. Dahinter Schützenplatz und Stadion. Wer Halligalli braucht, ist dort richtig. Das Krankenhaus selber besteht aus mehreren abgrundtief hässlichen Sechziger-Jahre- Bauten. Andi liegt auf der Intensivstation. Wir stehen vor der verschlossenen Tür. Kein Einlass. Irgendwann kommt ein Arzt heraus. Zerknautschtes Gesicht mit dicker Hornbrille, vielleicht fünfzig. Laut Namensschild Dr. Hornbacher.
»Wir sind Freunde von Andreas Bohemian. Er liegt bei Ihnen auf der Station. Wir möchten gerne wissen, wie es ihm geht», frage ich.
Der Arzt nimmt seine Brille ab und poliert sie mit einem weißen Tuch.
»Ein Herr Bohemian liegt nicht bei uns. Tut mir Leid.»
Ich versuche mich zu erinnern, wie Andi mit richtigen Namen heißt.
»Ein Herr Bothe? Wir waren bei ihm, als er zusammengebrochen ist.»
»Sie sind leider keine engen Angehörigen. Daher darf ich Ihnen keine Auskunft geben.»
Kathrin fängt wieder an zu weinen.
»Sagen sie uns: Wird er überleben?»
Der Arzt räuspert sich.
»Können Sie mir die Kontaktdaten seiner Eltern geben?»
Wir zucken die Achseln.
»Ich glaube, er stammt aus Peine. Aber ich kenne seine Eltern nicht», gestehe ich. Schon erstaunlich, wie wenig ich über meinen besten Freund weiß.
»Kommen Sie mit in die Cafeteria? », stiefelt er los, ohne eine Antwort abzuwarten.
Wir folgen ihm wie die Lemminge, was bleibt uns übrig, wenn wir Näheres zu Andis Zustand erfahren wollen.
Der Arzt holt einen Kaffee und setzt sich an einen Tisch. Seine Stirn glänzt vor Schweiß.
»Auch wenn ich Ihnen keine Auskunft geben darf. Ihr Freund braucht dringend Hilfe. Das war ein Warnschuss und Hilferuf zugleich. Herr Bothe richtet sich kontinuierlich zu Grunde. Wir haben in seinem Blut diverse illegale Substanzen festgestellt, die dem Organismus bleibende Schäden zufügen. Ausschlaggebend war allerdings der Konsum von Heroin. Da keine Einstiche festgestellt wurden, hat er die Droge anscheinend geschnupft.
Wahrscheinlich zum ersten Mal, aber da bewegen wir uns zurzeit auf dem Gebiet der Spekulation. Allerdings mehr als er verkraften konnte. Daher gehe ich davon aus, dass er den Zusammenbruch bewusst kalkuliert hat. Dies ist allerdings eine rein persönliche Einschätzung. Ohne wissenschaftliche Relevanz.»
Wir hören ihm staunend zu. Bis auf Antje. Die nickt, als hätte sie alles schon längst gewusst.
»Er wird die Überdosis überleben. Klar, kein Problem. Aber wenn Herr Bothe so weiterlebt, ist sein früher Tod bereits vorhersehbar. Ich werde ihm raten, sich schleunigst in therapeutische Behandlung begeben. Und dabei sind gute Freunde wichtig.»
Er steht auf.
»Morgen wird Ihr Freund verlegt. Dann können Sie ihn besuchen. Guten Tag.»
Mit wehendem Kittel schreitet er aus der Cafeteria.
»Es wird alles gut», verbreite ich Optimismus.
»Es wird alles fucking gut, sicher», ironisiert mich Antje.
»Wenn er nicht mit dem Scheiß aufhört, liegt er bald unter der Erde. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Dem Jungen fehlt eine Perspektive.»
Sie hat Recht.
»Ich ziehe nach Hannover», sagt Kathrin. »Ein Wechsel ist sicherlich möglich. Zusammen schaffen wir das.»
»Süße, wenn du nur zu ihm ziehst, weil du ein Helfersyndrom pflegen willst, habt ihr keine Zukunft. So ein Entzug geht an die Substanz.»
Immer pragmatisch, meine Ex-Liebste.
»Gib ihnen doch eine Chance. Willst Du Andi mit seinen Problemen alleine lassen?», frage ich wütend.
»Schon gut», beschwichtigt Antje. »Wollte ich nur anmerken. Finde ich gut, dass du ihn unterstützt. Wenigstens das ist gut an dir.»
»Wir lieben uns», beteuert Kathrin. »Und mit Liebe ist alles möglich. Auch wenn ich vielleicht ein Semester verliere, Andi ist wichtiger.»
Obwohl es blauäugig klingt, habe ich bis vorhin auch an die Macht der Liebe geglaubt. Aber vielleicht habe ich zu viel Mist gebaut. Meine Lüge war wirklich keine Glanznummer.
»Das finde ich super», sage ich niedergeschlagen.
Antje schaut ebenfalls verlegen. Wir haben unsere Beziehung selbst zerstört, hauptsächlich ich.
»Ich habe einige Dinge in meinem Leben zu regeln. Wir sehen uns morgen bei Andi», verabschiede ich mich. Ich drücke Antje verlegen die Hand, weiß nicht, was ich sagen soll.
»Mach’s gut», sagt sie.
Kathrin drückt mich. Wir fühlen uns tief verbunden in der Sorge um Andi. Ich spüre Antjes Blicke in meinem Rücken, doch ich drehe mich nicht um. Auch wenn es mir schwer fällt.

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