Samstag, Dezember 15, 2012

Ich bin ein Gutmensch

Ich halte mich für einen Gutmenschen. Auch wenn dieser Begriff gerne als Schimpfwort von rechten Populisten und Wutbürgern verwendet wird, adelt er mich. Ich habe moslemische Freunde, spende für meinen Fußballverein und bin nett zu meinen Mitmenschen. Zumindest oft. Okay, öfter als der Durchschnittsbildzeitungsleser. Aber an manchen Tagen fällt mir diese Einstellung verdammt schwer.

Wir bekommen heute Besuch von den Schreiers. Die kennen wir nicht persönlich. Joe hat sie mir bei unserem letzten Stammtisch in Charlies Eck empfohlen.
»Wir treffen uns übrigens mit einer netten Familie aus der Wedemark. Bekannte von Ingrid. Die haben Kinder in Martens Alter, sind sozial engagiert und künstlerisch interessiert. Ihr würdet gut zusammenpassen«, erzählt er beim letzten Bier.
Ich überlege. Marten freut sich bestimmt über Kinderbesuch. Und wenn wir auf einer Wellenlänge schwimmen, warum nicht. Ich lasse mir die Rufnummer der Schreiers geben und lade sie am nächsten Tag für Samstag zum Kaffee ein. Am Telefon klingt er nett, dieser David.

Es ist vierzehn Uhr dreißig. Steffi hat den kompletten Vormittag Kuchen gebacken. Reistorte mit Ananas, die wir alle sehr lieben. Kakao- und ein Schokokusskuchen für die Kinder. Es ist alles für einen vergnüglichen Nachmittag unter Freunden bereit.
Als es klingelt stürmt Marten die Treppe herunter. Er kommt mit David, Birte und drei Kindern zurück. Die Schreiers sind etwas jünger als wir, Mitte dreißig schätze ich. David trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose, Birte eine weiße Bluse zu dunkelblauem Rock. Etwas steif, vielleicht hätte ich doch nicht das Motörhead-Longsleeve anziehen sollen. Die Kinder wirken auch wie aus dem Ei gepellt.

»Wir grüßen euch. Möge dies ein unvergesslicher Tag werden.« Birte reicht mir die Hand.
»Moin«, sagt Steffi. »Wir freuen uns.«
»Darf ich euch unseren Nachwuchs vorstellen. Josef ist 9.« Er zeigt auf den größten Jungen. Er trägt einen dunkelroten Pullunder zu schwarzer Stoffhose und sieht aus wie David in klein.
»Alles klar, Josef.«
»Ich fühle mich geehrt, in Ihre Räumlichkeiten eingeladen zu werden«, entgegnet Josef.
»Wie gewählt er sich ausdrückt«, lacht Birte. »Josef besucht einen Debattierclub im Gymnasium, obwohl er noch zur Grundschule geht. Ein kleines Genie.«
Das verschüchterte Mädchen im karierten Rock und gelber Strumpfhose heißt Sarah. Jakob, der kleinste, ist 4. »Er ist hochbegabt. Wir haben uns überlegt, ihn schon jetzt einzuschulen. Was meint ihr?«
»Wenn er so talentiert ist«, murmele ich. Steffi blickt mich an und zieht die Augenbraue hoch.
»Kommt doch erst mal hinein«, sagt sie.
»Gerne. Ist aber auch kalt draußen.« David reibt sich die Hände.
»Die durchschnittliche Temperatur im Dezember letzten Jahres lag bei 3,8 Grad. Die Tiefsttemperatur in Hannover bei -2,1. Da zieht man sich entsprechend an, Papa«, weiß Josef.
»Recht hast du mein Sohn. Wie könnten wir ohne dein Wissen überleben.« Bin ich froh, dass Marten kein Klugschnacker ist.

Zehn Minuten später haben die Schreiers ihre Garderobe abgelegt. Wir sitzen mit  Birte und David um den Wohnzimmertisch. Sarah und Jakob sind mit Marten im Kinderzimmer verschwunden. Josef sitzt lieber bei den Erwachsenen, weil unsere Gespräche seinen Wortschatz bereichern.
»Und du bist Autor, sagt Joe. Er hat mir auch einen deiner Romane mitgegeben. Willst du ehrliche Kritik hören?«, fragt David. Eigentlich nicht. Dennoch sage ich »Aber gerne, konstruktive Ratschläge schaden nie.«
»Du versuchst auf Teufel komm raus witzig zu sein. Das wirkt verkrampft und schreckt die Leserschaft ab. Wir möchten kleine Bonmots zum Schmunzeln. Und dieser verrückte Handyverkäufer, der in das Haus seiner minderjährigen Kundin einbricht, um den Vertrag zurückzuholen. Völlig unglaubwürdig. Nicht wahr, Birte?«
»Habe ich auch so empfunden. Sorry, Micha. Das war nix.«
Ich weise darauf hin, dass in keinem meiner Romane ein Handyverkäufer eine Rolle spielt. Klingt eher nach Tommy Jaud. Aber die Schreiers schwören, dass es sich um mein Buch handelt. Ich gebe ihnen recht. War ein schwaches Buch von mir.

»Die Schriftstellerei ist nicht jedem vergönnt, Micha. Mir auch nicht, wenn es dich tröstet. Daher bin ich Lehrer geworden. Mir ist es wichtig, dass junge Menschen zu helfen, ihren Platz im Leben zu finden. Spielt Marten eigentlich ein Musikinstrument?«
»Etwas Keyboard. Das hat er sich selber beigebracht«, erzählt Steffi.
»Prima, ein musikalischer Junge. Kann er uns etwas vorspielen?«
Warum nicht. Wir holen Marten ins Wohnzimmer, der sich nur widerwillig vom Bahnspielen mit den Schreier-Kiddies trennt.  Birte muss unterdessen zum Auto. Sie hätten etwas vergessen. Mir fehlt sie nicht, stelle ich fest.
Marten intoniert auswendig Guten Abend, Gute Nacht. Wir platzen vor Stolz. Da klingelt es. Birte. Steffi öffnet ihr. Frau Schreier schleppt einem Gitarrenkoffer, Bongos und 2 Flöten in die Wohnung.
»Ganz nett, was euer Sohn da fabriziert hat, aber durchaus ausbaufähig.« David tätschelt Martens Kopf, was dieser mit angenervter Miene über sich ergehen lässt. »Wir machen auch ein wenig Hausmusik. Schließlich zahlt es sich aus, dass alle Kinder zwei Instrumente lernen.«
Vor unserem Fernseher baut sich die Schreier-Band auf. David an der Gitarre, Birte Flöte, Josef schlägt die Trommeln und Sarah flötet auch. Der kleine Jakob spielt nichts. Er lernt Klavier und lehnt es ab, auf unserem Keyboard zu spielen, da Plastiktasten den Anschlag verderben.
He’s got the whole world in his hand. Ich wusste gar nicht, dass der Song fünfzehn Strophen hat. Obwohl es eigentlich perfekt klingt, hasse ich es. David und Birte schütteln rhythmisch ihre Körper wie Whoopy Goldberg auf Ecstasy. Das ist nicht schön.

»Ganz fein habt ihr das gemacht«, lobe ich gönnerhaft. »Aber den Flötenlehrer würde ich wechseln. Ich bin zwar absoluter Laie, manch unsauberen Ton habe ich dennoch rausgehört.«
Steffi tritt mich unter dem Tisch, aber das musste einfach gesagt werden. David schaut mich finster an, dann klärt sich seine Miene auf.
»Kritik eröffnet die Chance zum Wachstum. Schön, dass du ehrlich bist. Wir schauen uns nächste Woche nach einem neuen Musikpädagogen für Sarah um. Super.«
»Wollen wir nicht Kaffee trinken«, versucht meine Frau die Situation zu entschärfen, weil sie merkt, wie ich innerlich koche.
»Oh, wir trinken keinen Kaffee«, sagte Birte. »Nur Tee aus biologischem Anbau. Wir sind gegen Umweltgifte allergisch.«
»Kein Problem. Haben wir auch.«

Nachdem wir die Kuchen aufgetragen haben, tritt die nächste Herausforderung auf.
»Sind die selbstgebacken?«, fragt Birte. »Natürlich«, sage ich.
»Auch das Mehl selber geschrotet? Industriemehl vertrage ich nicht.«
»Wir sind nämlich Selbstversorger«, erzählt David stolz. »Wir ernähren uns von dem, was unser Gärtchen uns bietet. Birte backt jeden Tag Brot aus selber angebautem Korn. Unser Gemüse züchten wir auch. Gerade für Kinder in der Entwicklung ist eine gesunde Lebensweise unverzichtbar. Das wäre bestimmt auch für Marten gut. Er macht einen nervösen Eindruck auf mich. Industriegifte!«
»Eigentlich ist Marten ganz glücklich, so wie wir leben. Mit eigenem Korn können wir mitten in der Stadt nicht dienen. Also wollt ihr keinen Kuchen?«
»Wenn er vom Biobäcker ist, würden wir eine Ausnahme machen. Nicht wahr, Schnuffelchen?«
»Ja, die Männer könnten ja zum Biobäcker gehen«, stimmt Birte zu.
»Ich gehe allein«, sage ich rasch. »Das will ich David nicht zumuten. Bei der Kälte.«
»Das wäre ich dir echt dankbar«, stimmt der mir glücklich zu. »Wir beide können noch beste Freunde werden. Was, Micha.«
»Beste Freunde. Das habe ich auch gerade gedacht«, lüge ich, ohne rot zu werden.

Ich fahre eine halbe Stunde nach Linden zur Biobäckerei. Währenddessen verfluche ich mich unentwegt, mich mit diesen Wichtigtuern verabredet zu haben. Freunde suche ich mir in Zukunft selber aus. Als ich vor der Biobäckerei stehe, kommt mir eine Idee. Für einen Euro kriege ich einige Verpackungen. Da sind die jungen Damen sehr zuvorkommend. Dann gehe ich zum Bilig-Back-Shop nebenan und hole 2 Kuchen. Die verpacke ich mit den Biobäckereiverpackungen. Das ist kindisch, macht aber Spaß.
Wieder zu Hause tische ich den vermeidlichen Ökokuchen auf.
»Da schmeckt man gleich den Unterschied«, doziert Birte.  »Fast wie zu Hause«, schwärmt David. »Vielleicht schrotet Steffi bald auch Körner. Außerdem solltest du Marten eine Holzeisenbahn tischlern. Die sind einfach zu fertigen und viel gesünder für den Jungen als dieses Plastikzeugs. Bei uns kommt kein gekauftes Spielzeug ins Haus.«
»Das ist übrigens kein Biokuchen«, platzt es aus mir heraus. »Die hatten sich nur die Verpackung von dort geborgt. Der Biobäcker hatte geschlossen.«
Triumphierend schaue ich David an. Jetzt wird er wutentbrannt seine Gabel hinschmeißen und mit seiner Super-Familie im Schlepptau aus unserem Leben verschwinden.
David und Birte sehen sich tief in die Augen.
»Micha. Wir wissen doch spätestens seit deinem Handyverkäuferroman, dass du einen Sinn für schlechte Späße hast. Es schmeckt hervorragend. Wir wissen, was Bio ist. So gut wie mit euch haben wir uns übrigens schon lange nicht mehr unterhalten. Wir treffen uns von nun an regelmäßig. Was haltet ihr davon?«

Als uns die Schreiers verlassen haben, beschließen wir, am nächsten Tag unsere Telefonnummer zu wechseln.
Ich rufe Joe an. »Was habe ich dir getan, dass du mir solche Leute auf den Hals hetzt?«
»Du hast meinen Geburtstag vergessen. Dafür solltest du einen kleinen Denkzettel erhalten.«
»Tut mir Leid«, murmele ich. »Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Aber musste die Strafe so hart sein?«
»Quatsch. Ich hatte gar keinen Geburtstag. Reiner Selbstschutz. Die Schreiers hatten angefangen, sich bei uns einzunisten. Und diesen Bio-Kram kann ich nicht ab. Ingrid schon, die vermisst die Vollhorste auch. Sonst sind sie sonntags immer bei uns aufgelaufen.«
Joe schwört, unsere neue Nummer nicht an David weiterzugeben. Dafür verrate ich Birte nicht, dass Joe regelmäßig die Nachrichten der Schreiers von ihrem Anrufbeantworter löscht. Zum Glück rufen sie nie auf Handys an. Prinzipientreue hat ihre Vorteile.

Immerhin weiß ich seit dem Besuch der Schreiers eines sicher: Ein richtig guter Gutmensch bin ich noch lange nicht. Mir fällt schon der eine oder andere Zeitgenosse ein, dem ich die Nummer der Schreiers in die Hand drücken könnte.

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