Ich esse
gern. Das ist vermutlich erblich bedingt. Mein Vater hat gerne gegessen und
mein Großvater, den ich nicht kennenlernen durfte, vermutlich auch. Leider ist
das Oststadt-Krankenhaus eine kulinarisch befreite Zone. Zumindest für mich.
Über den Tropf erhalte ich alle lebenserhalten Stoffe, selbst Flüssigkeit. Wenn
Patient den ganzen Tag nichts zu tun hat, wäre Essen eine willkommene
Abwechslung. Ich frage bei der morgendlichen Visite vorsichtig beim Arzt an.
»Stimmt. Gut,
dass Sie fragen. Eigentlich könnten Sie wieder Nahrung zu sich nehmen. Erst
einmal aber nur Suppe und Joghurt.«
Besser als
nichts. Aber an diesem Tag steht eine weiteres Highlight bevor. Schwester
Andrea wird während der Verteilung der Trombosespritzen von einem Handyanruf
gestört. Sieht nicht sehr erfreut aus.
»Wir ziehen
um«, eröffnet sie uns anschließend. »In einer halben Stunde muss das Zimmer
leer sein. Eine MRSA-Patientin wird aus der Notaufnahme auf unsere Station
verlegt.«
»Was ist
dieses MRSA?«, frage ich.
»Eine antibiotikumsresistente
bakterielle Infektion.«
»Fängt man
sich vor allem in Krankenhäusern ein. Das ist kein Kindergeburtstag«, weiß
Zimmernachbar Götel. Er wird heute entlassen, worüber er sichtlich froh ist.
Ich schlucke
erst einmal. Selbst James versteht trotz fehlender Sprachkenntnisse, dass diese
Erkrankung uns alle gefährden könnte. Er hält sich den Hals und bettelt »Schwester,
Smörtsmiddel.« Kriegt er auch.
James wird in
seinem Bett in den Nachbarraum geschoben. Ich darf mit meinem Chemikaliengalgen
selber rüber schleichen. Ein schickes Sechs-Bett-Zimmer erwartet uns. Wird
immer besser. Zum Glück ist nur ein Bett belegt.
»Hallo, ich
bin der Eduard«, stellt sich ein Mann in meinem zarten Alter vor. »Ich musste
vor einem halben Jahr meinen Nabeldurchbruch operieren lassen. Reine Routine.
Dabei hat mir der übermüdete Chirurg den Darm angeschnitten. An 3 Stellen.
Mittlerweile bin ich neunzehn Mal nachoperiert worden. Sie schaffen es nicht,
mich wieder zusammenzuflicken.«
»Kunstfehler?«
»Meine
Schuld. Ich habe wie jeder unterschrieben, dass Fehler bei der Operation
passieren können. Die Ärzte meinen, es wäre mein Problem. Aber aus Kulanz
behandeln sie mich weiter.«
Mir wird
anders. Vielleicht es doch besser, den Krankenhausaufenthalt Drogen vernebelt
vorbeigleiten zu lassen, als immer neue Schauerlichkeiten hören zu müssen. Es
scheint genauso wichtig zu sein, das Krankenhaus zu überleben, wie die
ursprüngliche Krankheit.
Das Essen
wird aufgetischt. Pünktlich erscheint James' Frau. Die kümmert sich wirklich liebevoll
um ihren Mann. Während James genussvoll einen Gyrosteller verspeist, verstaut
sie all die mitgebrachten Fressalien.
»Mein James,
war ein Kerl wie ein Baum. Er hat hundertzwanzig Kilo gewogen. Und heute? Ein
Häufchen Elend, das gerade einmal fünfundneunzig auf die Waage bringt.« Ich
nicke verständnisvoll.
»James, ich
war heute bei der Grundeigentümerversammlung. Da gab es Braunkohl und das Bier,
das du immer so gerne trinkst. Da habe ich für dich etwas abgezweigt. Kannst
heute Abend in dein Nachttischfach schauen. Deine Hähnchenkeulen sind in der
Tüte vom Metzger.«
»Jetzt essen«,
röhrt James, denn der Gyrosteller ist bereits verputzt.
Eduard
bekommt ebenfalls Suppe, die augenblicklich in einen seiner drei Katheder-Beutel
läuft.
»Ich esse
nur, um nicht aus der Übung zu kommen«, grinst er. Seine gute Laune ist
angesichts der gesundheitlichen Lage bewundernswert.
Nun widme ich
mich meinem Essen. Ich habe Spargelcremesuppe bestellt. Die schmeckt eigentlich
immer. Ich hätte noch Zucchini-, Tomaten- oder Gemüsemixsuppe wählen können. Aber ich bleibe
noch ein paar Tage hier.
Ich nehme den
ersten Löffel und unterdrücke den Impuls, alles wieder zurück zu spucken. Was
ist denn das? Ein schleimiger, versalzener Chemiemix, der noch nicht einmal
neben einem Spargel im Lager gestanden hat.
Zum ersten
Mal während meines Aufenthalts drücke ich die Klingel. Nach 10 Minuten kommt
Pfleger Markus.
»Und?«, fragt
er gereizt.
»Ich bin
eigentlich nicht besonders wählerisch, aber dieses Zeug kriege ich nicht
runter. Das hat mit Gemüsesuppe nichts zu tun.«
Er blickt
mich mitleidig an. »Sie sind wohl einer von diesen ganz schwierigen Patienten. Was
erwarten Sie denn? Das ist ein Krankenhaus. Noch nie einen Fernsehbericht über
Verpflegung in Krankenhäusern gesehen? Vollstes Verständnis. Am besten schmeckt
meiner Meinung nach die Zucchinisuppe. Da ist natürlich auch kein Gemüse drin.
Die schmeckt nach irgendwas und ist grün. Aber wie gesagt: Die lässt sich noch
so gerade essen.«
Ich verzichte
und bitte darum, wieder an den Ernährungstropf angeschlossen zu werden. Lehnt
er ab. Innerlich entwickle ich Aggressionen. Vor allem, weil der Duft von James‘
Braunkohl zu mir rüber zieht. Ich überlege: Seine Frau ist nach Hause gefahren.
Ich bin selbst im momentanen Zustand stärker als ein fast Achtzigjähriger. Da
könnte ich doch… Nein, ich schäme mich vor mir selber für meine kriminellen
Gedanken.
Unsere WG
bekommt Zuwachs. Ein hamburgerisch sprechender Dialysepatient mit einem
altersbefleckten Gesicht. Dabei ist er gerade mal fünfzig, wie er sofort erzählt.
So stelle ich mir Methusalems Großvater vor. Wir geraten gleich aneinander. Da
er permanent niest, sage ich »Gesundheit, da hat die Erkältung Sie aber schwer
erwischt.« Ich dachte, das wäre freundlich. Denkt er aber nicht.
»Sind Sie
komplett verrückt. Das ist doch keine Erkältung! Das liegt an den
Wassertabletten. Erkältung, sowas Bekloppten habe ich noch nie gehört. Gehen
Sie mir weg, Sie Besserwisser.«
Im Geiste erkläre
ich unsere Freundschaft für beendet, bevor sie begonnen hat. Als nächstes
beehrt uns Arno.
»Ich bin
Epileptiker, dreißig Jahre an der Nadel und HIV positiv. Ich will hier meinen
Magen durchchecken lassen.«
Alle denken
dasselbe. Ein Junkie auf kaltem Entzug. Das könnte Probleme geben.
»Woher weißt
du denn, dass du HIV positiv bist?«, fragt schließlich Eduard.
»Ich hatte so
eine Fixerfreundin. Mit der habe ich mal aus Versehen gepoppt. Und irgendwann
im Krankhaus haben mir die Ärzte gesagt, Herr Pohl, Sie haben da was. Kein
Ding.«
»Hast du es
mit Methadon probiert?«
»Ach, nö. Das
mag ich nicht. Schließlich kann ich nur einen Tod sterben, da ist es egal
woran.«
»Ich mag euch
Brüder nicht. Ihr seid Abschaum«, keift der Hamburger neben mir.
Arno schaut
nur stoned aus der Wäsche. Dann erblickt er James‘ Braunkohl. »Ich habe noch
überhaupt nichts gegessen. Kann ich etwas abhaben?«
»Herkomm, ich
geb dir«, strahlt James. Mensch, hätte ich nur eher gefragt. So schaufelt sich
Arno den Rest von James‘ Nachtisch hinter die Kiemen und staubt noch eine
Hähnchenkeule ab. Dann geht er rauchen.
Zum
Abendessen bekomme ich Milchsuppe. Riecht ekelerregend. Arno raucht noch immer
draußen in der Kälte. Meine Chance.
»Hast du
vielleicht noch eine Hähnchenkeule übrig, James?«
»Ich Smörtsmiddel,
du chicken.«
Ich tausche
gern. Auch wenn ich ein schwieriger Patient bin, ist für einen Moment meine
Welt wieder in Ordnung. Zum Nachtisch leere ich ein Bier. So lässt es sich
selbst im Oststadt-Krankenhaus aushalten.
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