Samstag, Juli 03, 2010

Bestseller: Kapitel 1 - Der Horst an sich

Guten Abend,

wie am Freitag versprochen startet heute die Online-Version von Bestseller. Viel Spaß beim Lesen. Über Feedback und Amazon-Rezensionen freue ich mich natürlich immer.

Kapitel 2 namens Vagina-Blues gibt es am Montag, den 12.07.10.

Liebe Grüße Michael und Martin




I. Der Horst an sich

Heimat

Mein Name ist Horst und Horst ist mein Karma, mein Auftrag zu leiden, den mir meine Eltern bei der Geburt aufgebürdet haben. Kann man einen Horst lieben? Kann ein Horst Erfolg haben? Auf einer Homepage haben über hundert Menschen ihre Empfindungen zum Namen Horst abgegeben. Ein Horst ist zwar männlich, dafür aber unsportlich, mittellos, unattraktiv und so intelligent wie eine Amöbe. Dankeschön. Und sämtliche Erfahrungen meiner Jugend bestätigen die Meinung dieser hundert Menschen. Hohlhorst lautete mein Spitzname in der Grundschule. Doofhorst und Pannemann auf dem Gymnasium. Einem Horst traut keiner was zu. Das merkte ich an den Zensuren. Schätzte ich mich selber im oberen Mittelfeld ein, verwiesen mich die Pauker auf die unteren Ränge. Wenn ein Christian im Deutschaufsatz schrieb „Durch Goethes Poesie weht die Weltenseele“, prangte der Kommentar „Genial erfasst.“ am Kladdenrand. Schrieb ich dasselbe, fragte Pauker Schwuttke nach Fakten, bezichtigte mich der Schwafelei und fand in sechs Worten sieben Ausdrucksfehler. Dennoch wurde aus dem „genialen“ Goethe-Interpreten Christian ein Bademeister und aus mir ein Schriftsteller.

Ihr fragt Euch, warum ihr noch nichts von mir gehört, noch nie mein Konterfei in den Feuilletons von SZ oder FAZ bewundert habt? Liegt alles am Unglück bringenden Vornamen Horst? Die Antwort lautet: Jein. Zu dem unsexysten Namen, der je in ein Stammbuch gekritzelt wurde, kommt ein weiterer Makel meiner Vita. Jeder Deutsche versteht das sofort und wundert sich, dass ich mir keine gefakte Biographie zulege: Ich lebe und arbeite in Hannover. Diese Stadt ist für ihre Durchschnittlichkeit berühmt. Sogar Barbara Schöneberger feierte in einer Ode das Mittelmaß der niedersächsischen Landeshauptstadt. Gibt es etwas Beschämenderes?

Ursprünglich stamme ich aus dem Pott, aus Duisburg um genau zu sein. Diese Stadt verfügt über eine Idylle am Ufer des Innenhafens und Armeen brennender Ölfässer im Norden. Doch niemand tadelt Duisburg für seine astronomischen Arbeitslosenzahlen, die Aufmärsche der Rechten und sein ausgedünntes kulturelles Leben. Keiner schmäht Mannheim, Magdeburg oder Bitterfeld. Niemand kotzt über Erfurt, Frankfurt oder Oldenburg. Und Hannover zieht an diesen Städten in meinem persönlichen Ranking locker vorbei. Ob Punkkonzerte in der Nordstadt, lässiges Abhängen in Linden, Sonne tanken im Georgengarten, Picknick im Deister: Wo findet man soviel Lebensqualität auf läppischen zweihundertvier Quadratkilometern. Aber ist der Ruf erst einmal ruiniert, dann lebt es sich ganz gern durchschnittlich.

Rokko Schamoni und Heinz Strunk leben in Hamburg. Das ist cool. Der alte Enzensberger in München. Für Senioren passabel. Sven Regener in Berlin. Das ist nicht zu toppen. Slamer-Kollege Bas Böttcher ist von Bremen nach Berlin zum internationalen Erfolg gezogen. Selbst Stuckrad-Barres erblassender Stern erleuchtete in der Hauptstadt zu neuem Glanz. Wenn Berlin einem Latte-Macchiato, Hamburg einem Cappuccino und München einem Espresso gleicht, ist Hannover höchstens ein dünner Kaffee mit einem Schuss Büchsenmolke in den Augen der Öffentlichkeit.

Warum lebe ich immer noch in Hannover, mögt ihr fragen. Ich liebe diese Stadt und glaube, dass auch ein Hannoveraner Autor Erfolg haben kann. Und hier wohnen meine Homies. In diesem großen Dorf, wo jeder jeden kennt und jeder leben kann wie er will. Ist zwar ein Klischee, passt aber. Vielleicht auch nur für mich.

Nachdem ich meinen Entwurf für den nächsten Poetry-Slam auf dem Monitor durchgelesen habe, erfüllt mich Stolz. Endlich ist mir ein persönlicher Text gelungen, ansonsten schreibe ich eher politische Propaganda oder Sauf- und Weibergeschichten à la Hank Bukowski für die Bühne. Der Erfolg ist eher mäßig, aber die Message zählt.

Nachdenklich gönne ich mir einen Schluck Herrenhäuser. Was wohl diesmal Markus von der List und Antje Fellatio zu bieten haben? Das sind meine Konkurrenten beim nächsten Dichterwettstreit im Faust. Markus hat schon diverse Slams gewonnen, brilliert mit geschliffenen Versen an die Werke der Klassiker angelehnt. Mit seinem „Hölderlin-rülpst“-Poem hat er im letzten Jahr die Säle von Garmisch bis Leer gerockt.



Antje hingegen setzt auf knallige Erotik nah der Pornographie. Für mich persönlich wirkt sexuelle Provokation eher fad. Deshalb halte ich mich mit Infos über Peniswarzen und Ejakulatsmengen zurück. Wir haben mit Mitte dreißig alles gesehen, oder? Aber Charlotte Roche ist erfolgreich durch Vaginasekrete und Exkrementenberge gewatet, warum sollen Epigonen sich nicht in die Erfolgswelle hineinschmeißen und an Spritzern der Ruhmesgischt erfrischen? Meins ist es jedenfalls nicht.

Aber für einen Platz auf dem Siegertreppchen ist es gut, sich der Mode des literarischen Undergrounds unterwerfen. Doch dazu habe ich keine Lust, will mich nicht verbiegen. Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss, dass es auch diesmal nicht für eine vordere Platzierung reichen wird. Knalliges wird erfahrungsgemäß besser bewertet als Getragenes. Aber was soll’s. Beim Slam dabei zu sein, ist wirklich das Größte. Auf der Bühne vor über hundert Zuhörern seine Texte zu performen, im Applaus zu baden, das ist ein starkes Gefühl.

Ansonsten verfasse ich avantgardistische Romane scharf neben dem Mainstream. Mein erster Romanentwurf im Alter von siebzehn war ein totaler Flop. Ich wollte den Kriminalroman revolutionieren und schuf mit Kuno und Gabi zwei Killergeranien, die sich durch die karge Flora des Ruhrpotts ballern. Bonny und Clyde auf Öko. Stolz kopierte ich von meinem Taschengeld die fünfzig Seiten, die ich in Vaters elektrische Schreibmaschine gehackt hatte, und drückte sie meinen Freunden in die Hand. War zu strange. Die Höflichen meinten, ich solle lieber Sport treiben, die weniger Höflichen wechselten fortan die Straßenseite, wenn sie mich erblickten. Keine Beziehung zu wahrer Kunst. Ich habe mich aber nicht abschrecken lassen, denn ich glaube an meine Berufung. Einen Roman habe ich bisher nicht veröffentlicht, gebe aber die Hoffnung nicht auf.

Mein aktuelles Projekt heißt Memoiren eines Blutegels. Das Viech heißt Fred Sauger. So etwas ist noch nie da gewesen in der deutschen Literaturgeschichte. Zumindest soweit ich weiß. Eine allegorische Darstellung des Kapitalismus’. Eine Art abgespaceter Kafka des 21. Jahrhunderts. Der Egel arbeitet in den großen Konzernen und saugt sich mit Macht, Geld und Sex voll. Keiner erkennt, dass Fred ein Wurm und kein Mensch ist. Zum Schluss wird er wahrscheinlich Bundeskanzler und von der ganzen Welt hofiert. Ich weiß es noch nicht. Neben der politischen Aussage lege ich viel Wert auf bissigen Humor. So ist es anatomisch diffizil und delikat zugleich, Sex mit einem Egel zu haben. Dass die Tiere Zwitter sind, habe ich unberücksichtigt gelassen. Mir kommt es eher auf die transformierende Wirkung an. Durch Ausscheiden eines Sekrets hemmt der Egel Entzündungen. Fred lindert Korruption, Lieblosigkeit und den Materialismus unserer Gesellschaft durch sein reines Dasein. Schwer philosophisch. Ich habe diversen Verlagen Exposés zugeschickt, habe aber leider nur Formschreiben erhalten. Bis auf den Atompilzverlag in Rheda-Wiedenbrück. Der Cheflektor Timor Anarchuk hat mir persönlich geantwortet: „Liebe Horst Stengel. Mit Freude habe ich Ihren Entwurf studiert. Allerdings ist das Konzept für unseren Verlag etwas zu antiquiert. Wenn Sie einen Phallus oder eine Vagina als Protagonisten gewählt hätten, würde ich gute Absatzchancen sehen. Tierromane sind aber bereits etabliert und seit Günter Grass’ Butt für den alternativen Literaturbetrieb ein No Go. Haben Sie den Mut zur literarischen Revolution. Dann können Sie gerne wieder auf mich zukommen.“

Zu revolutionär für den etablierten Kulturbetrieb, zu antiquiert für den Underground, der in Feuchtgebieten ertrinkt. Enden meine literarischen Träume in dieser Sackgasse? Der Todesstoß für Memoiren eines Blutegels? Nein, ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Roman den Buchmarkt rocken wird. Ich schreibe ihn fertig und biete ihn erneut an, denn mein Schreibstil zwischen Houellebecq und Konecny wird die gestrengen Augen des kritischsten Lektors durch Brillengläser wohlwollender Bewunderung strahlen lassen. Was für ein Autor. Grandios. Dass dieses Talent noch nicht entdeckt worden ist. Konzept etwas gewagt, aber die Prosa fließt wie ein glitzernder Fluss, der alle und alles mit sich reißt zum Meer sprachlicher Perfektion.

Ich gehe zum Ghettoblaster und lege die Vier Gewinnt-Scheibe der Fanta 4 in den CD-Schacht. Ich mach die Augen auf, in meinem Zimmer ist es still, mein Kopf ist voll mit Dingen die ich dort nicht haben will, was hab ich bloß gemacht, wo war ich letzte Nacht mit wem und vor allem wie hab ich sie verbracht Sechzehn Jahre hat die Mucke auf dem Buckel und streichelt meine Seele wie Anfang der Neunziger. Tritt jeder Depression in den Arsch.

Es klingelt an der Tür. Rasch leere ich die überquellenden Ascher, schmeiße die auf dem Boden liegenden Zeitschriften auf einen Haufen. Ich blicke durch den Spion. Andi, mein Buddy, und eine blonde Begleitung im Glitzerlook, die ich nicht kenne.
»Komm gleich. Bin noch im Bad», rufe ich, renne zur Dudelkiste und tausche Fanta 4 gegen Zentrifugal.

Die Schwabenhopper sind meinem Kumpel zu proletenhaft. Das würde unnötige Diskussionen hervorrufen, auf die ich keine Lust habe. Er steht unverständlicherweise auf Siebziger-Rock. Schweißtreibende Mattenschwingermusik wie Depp Popel. Nirwana findet er auch gut. Und intelligenten deuschten Hip-Hop, wobei seine Definition von intelligent nach Lust und Laune variiert. Smudo und Konsorten fallen immer durch sein Raster. Sie werden es verkraften.

Andi ist Künstler und Designer. Was er designed, weiß eigentlich keiner genau. Produkte, die die Welt nicht braucht, aber seinen Spieltrieb befriedigen. Ein fünf Jahre altes Kiosk- und ein sieben Jahre altes Stuhlquartett liegen in meiner Schublade. Originell, aber wer zahlt dafür? Dauernd erzählt er von Messen in fernen Städten, kennt Hinzchen und Künzchen, steht immer vor dem großen Deal. Aktuelle Entwürfe habe ich schon lange nicht gesehen. Momentan versteift er sich auf Malerei. Abstrakte Farbflächen, die er mit Titeln wie Stalingrad oder G8-Gipfel versieht. Und Objekte. Umarrangierter Müll, würde meine Oma sagen. Für Andi jedoch die Pforte zum Sahmadi. Ich frage mich, wer das kauft. Seine Firma heißt: pro:perfekt: Die Doppelpunkte haben keine Bedeutung, sehen aber wichtig aus, hat er mir erklärt.

Ich schätze, er lebt von den Frauen, die er in Diskotheken aufgabelt. Dabei sieht Andi überhaupt nicht wie ein Casanova aus. Hoch gewachsen, Nickelbrille, spitzbübisches ironisch-distanziertes Lächeln umrahmt von buschigen Augenbrauen. Mehr der freundliche Kumpel von Nebenan als der feurige Gigolo aus Exoticland. Im Gegensatz zu mir legt er viel Wert auf seine Kleidung. Oft sieht man ihn mit Krawatte wie ein Nachrichtensprecher getarnt auf Punkkonzerten. Dafür betritt er in Latzhose und Sex-Pistols-Shirt die Symphonie. Immer unberechenbar bleiben, sagt er. Naja, dabei ist sein Nonkonformismus extrem vorhersehbar. Aber wer ohne Schwäche ist, werfe den ersten Kiesel. Sympathischer Typ, aber kein Brad Pitt, oder auf wen auch immer die Damenwelt gerade steht. Seine Masche ist einfach und bringt laut Andi achtzigprozentigen Erfolg. Er spricht eine attraktive Frau in der Disko an und fragt: „Hast du Lust mit mir zu ficken?“ Je hübscher die Frau, je höher die Wahrscheinlichkeit, beteuert er. Ich würde mich so was nie trauen. Bin eher der schüchterne Typ, und außerdem gibt es Bea. Genau genommen hat es Bea gegeben. Ach, habe keine Lust darüber nachzudenken. Zudem hat Andi einen stinkreichen Vater, der marode Unternehmen aufkauft und mit Gewinn verscherbelt. Obwohl sie kaum miteinander sprechen, bläst ihm der Alte ordentlich Zucker in den Arsch. Ich gönne es ihm, denn er ist ein netter Kerl und hat mich noch nie hängen lassen. Er versteht mich, wie er nur wahre Buddies tun, sieht nicht nur meine bloße Erscheinung sondern den Horst an sich, wie es Kant formulieren würde.

Ich öffne Andi die Tür.
»Alles klar, mein Freund?», begrüßt er mich und stolziert auf mein Sofa zu. »Klasse Scheibe, was? Bas Böttcher war die frühe Blüte des deutschen Hip-Hops. Habe ihn mal in Hildesheim getroffen, netter Kerl.» Die hübsche Blonde mit Pagenschnitt, nicht die größte, aber eine Augenweide, folgt zögernd.
»Bin die Petra», murmelt sie etwas verhuscht, als sei der Name eine Beleidigung. Ich verkneif mir ein ‚Macht ja nix’ sondern antworte »Horst». Interessiert mustert sie mich.
»Mensch, Hotte», dröhnt Andi. »Deine Bude sieht genauso abgefuckt aus wie bei meinem letzten Besuch.»
Missbilligend streicht er über die von der Wand wellende Raufasertapete.
»Bring den Schuppen doch endlich auf Vordermann. Wie innen so außen. Wenn du deine Wohnung in einen properen Zustand transferierst, wird es auch mit einem Job oder mit den Frauen klappen. Glaub mir, ich spreche aus eigener Erfahrung.“
»Seit Bea mich verlassen hat, bin ich ein wenig down. Konzentriere mich auf die Literatur. Für Renovierungsarbeiten bleibt da keine Zeit», fühle ich Verteidigungsdrang und versuche unauffällig, mit dem Fuß den Teppich zu glätten.
Ich weiß nicht, was er hat. Okay, die Tapete ist nicht der Burner. Das Geschirr in der Spüle müsste auch mal gewaschen werden. Ich mag es halt funktional. Kann hier schreiben und schlafen, andere Zwecke braucht die Zweieinhalb-Zimmer-Bude nicht zu erfüllen.
»Bea hat dir vor einem halben Jahr den Laufpass gegeben», wird meine Entschuldigung zurückgewiesen.
»Aber sie ruft immer noch an, interessiert sich, wie es mir geht. Vielleicht kommen wir wieder zusammen», glaube ich selber nicht an meine Worte.
»Wenn du meinst», verdreht Andi die Augen. Schließlich hat er die Sie-liebt-mich-immer-noch-Geschichte schon an die fünfzig Mal gehört.
»Wer ist Bea? », beteiligt sich Petra am Gespräch. Andi verdreht wieder die Augen, weiß er doch, dass mit dieser Frage der Startknopf meines Bea-Tapes gedrückt ist.
„Meine absolute Traumfrau. Wir waren wie Ying und Yang, ergänzten uns perfekt. Die Zeit mit Bea war die schönste Phase meines Lebens», rede ich mich in eine mittlere Depression.
»Was ist denn schief gelaufen?», fragt Petra. Gar nicht so übel die Frau. Keiner meiner Freunde möchte mehr ein Wort über Bea hören.

Ich lernte sie über das Internet kennen. In einem Esoterikforum. Ich hatte mich dort nur eingeloggt, um lustige Geschichten von Menschen zu lesen, die Rumpelstilzchen mit Wünschelruten aufspüren können. Stoffsammlung sozusagen. Dann schrieb ich in einem Thread, dass ich Autor sei. Daraufhin mailten mir bestimmt zwanzig kranke Gestalten. Ob ich ihr Buch verlegen könne. Eine Frau verfasste Gedichte über Gemüse. Ob wir uns zusammentun wollten. Danke, leb dein verpfuschtes Leben alleine. Bea meldete sich auch. Die war zwar auch ein wenig seltsam gestrickt, gefiel mir aber auf Anhieb. Dass sie an Engel und Chakren glaubte, fand ich jedenfalls vernachlässigenswert. Unser Briefverkehr gefiel mir. Sie war witzig, charmant und Single.
Dann kam sie nach zwei Wochen Schriftverkehr bei mir in Duisburg vorbei. Es war Liebe auf den ersten Blick. Verschmelzung der Körper in grenzenloser Ekstase. Wir sind daraufhin abwechselnd am Wochenende in die Stadt des anderen gependelt. Während der Woche jobbte ich als Anzeigenwerber für ein Wochenblatt. Wenig befriedigend, es gab aber ein paar Tacken aufs Konto. Hannover, Beas Heimat, hat mir immer besser gefallen. Die blöden Kommentare meiner Kumpels aus dem Pott vermehrten sich proportional zu meiner Reiselust. Was willst du in Hannover? Eine ödere Stadt gibt es in ganz Deutschland nicht. Oder wann hat 96 das letzte Mal Schalke geschlagen? So denken die meisten Leute im Ruhrgebiet. Die Lebensqualität wird mit dem Tabellenstand des favorisierten Fußballteams bewertet. Allerdings wird über die fehlenden Erfolge des Blau-Weißen gerne hinweggesehen, denn für ihre Fans bleiben sie immer Meister der Herzen.

Aber was interessiert mich Fußball. Wenn Bea und ich über die Limmer Straße flanierten, war das wie Lifekino. Da hockten alte DKP-Opis vor dem Notre-Dame und sinnierten über die glorreichen Achtziger, Studenten durchvölkerten die Antiquariate und linke Otto-Normal-Ökos shoppten im Biotempel. Ein Paradies der Gegenkultur. Im Pott findest du so was nicht.

Nach einem Jahr Pendelei beschlossen wir zusammenzuziehen. Bea arbeitet als Texterin in einer Werbeagentur. Verdient gute Knete, ackert allerdings von neun bis in die Puppen. Ich habe leider keinen festen Job gefunden. Ist auch nicht einfach. Nach Schule und Zivildienst hatte ich zunächst studiert, dann aber keine Lust mehr auf die Reproduktion gelehrten Geschwätzes gehabt. Das Arbeitsamt sagte mir, Industriekaufmann sei genau richtig für mich. Glaubte ich zwar nicht, war aber bequem. Und gab tausendfünfhundert Märker aus EU-Mitteln. Super geil. Aber Buchhaltung und Verkauf sind einfach nicht mein Ding. Wenn ich einen Kontenplan sehe, kräuseln sich meine Zehennägel. Aber anderes habe ich leider nicht erlernt.
Frisch in Hannover ergatterte ich einen Job bei Freenet und warb DSL-Kunden an der Haustür. Ein größerer Flop als die Telekom-Aktie. Wer wechselt den Provider, wenn ein Straßenverkäufer im Stile eines Diskopromoters erzählt, dass er noch heute diese einmalige Chance ergreifen muss. »Greifen sie zu. Nur heute gilt unser zweihundert Prozent Rabatt auf Anschlussgebühren. Natürlich liegen unter ihrem Feldweg DSL-Kabel. Vertrauen Sie mir. Die Erna auf den Strich geschrieben, und Ihr Gigapaket an Informationstechnologie ist gebucht.» Niemand. Nur eine Oma unterschrieb, der ich erzählte, dass die Telekom dichtmachen würde. Eine reine Verzweiflungstat, bei der ich mich sauschlecht fühlte. Als ihr Sohn sie über meinen Schwindel aufklärte, stornierte sie den Auftrag sofort. Nach zwei Wochen saß ich auf der Straße und am Ende der Karrieresackgasse.

»Ich konzentriere mich komplett aufs Schreiben. Frondienste stören meine Konzentration auf das Wesentliche», erklärte ich Bea. Fand sie okay. Mit einem Künstler als Freund hebt sich der Status in Lindener Szenekreisen um bestimmt zwanzig Prozent. Im Grunde träumt hier jeder vom großen Wurf, dem Durchbruch mit der Garagenband, der Vernissage in der New Yorker U-Bahn oder der Veröffentlichung bei einem Szene-Verlag. Doch die wenigsten schaffen es. Ich erklärte, dass ich einen Roman veröffentlichen wolle, um vom Schreiben zu leben. Zu diesem Zeitpunkt war Bea stolz auf mich. Außerdem verdiente sie genug für uns beide. Sie sagte, ich solle mich um den Haushalt kümmern und ansonsten schreiben. Klang fantastisch.

Doch der Weg zum Ruhm ist zäh. Wenn du schreibst, bist du in einem meditativen Fluss, fokussierst dich auf deinen Stoff, Stil und Figuren. Da bleibt wenig Zeit für saubere Fenster und Müllentsorgung. Selbst die Einkäufe litten unter meinem Schreibwahn. Bis auf Kippen und Kaffee ließ ich die Besorgungskiste ein wenig schleifen. Bea rauchte nicht und trank nur grünen Tee. Unserem täglichen Döner konnte sie daher nichts Positives abgewinnen. Kein Wunder, dass sie mit meiner Einkaufsliste unzufrieden war. »Mach endlich mal was im Haushalt. Ich arbeite vierzehn Stunden pro Tag. Da ist es nicht zu viel verlangt, dass du dich um unsere Wohnwelt kümmerst. Zumindest ein Grundmaß an Sauberkeit und ein gefüllter Kühlschrank sollten vorhanden sein. Ich fühle mich so nicht wohl», fuhr sie mich an.

»Baby, was ist los mit dir? Wie soll ich den großen deutschen Roman schreiben, wenn ich den Staubwedel schwinge. Ich habe mich für das Leben als Schriftsteller entschieden und kann mich nicht mit Trivialitäten abgeben.»

»Haushalt oder Straße, du hast die Wahl», stürmte sie aus dem gemeinsamen Wohnzimmer und knallte die Tür, dass die Lampen an der Decke wackelten. Ich zeigte mich unbeeindruckt und werkelte an meinem Roman. Schrieb fast zwölf Stunden am Tag, ging höchstens mit den Freunden auf ein Bier ins Chez Heinz. Bea verstand einfach nicht, dass ich genauso hart wie sie arbeitete. Sie sprach nur das Notwendigste mit mir. »Bringst du den Müll runter?» - „Hast Post.» - »Benutz gefälligst die Toilettenbürste. Mit Spülen bist du auch dran!»

Ich ignorierte diese Sklaventreiberei. Was wollte die Frau? Hätte sie die Biographien Thomas Manns oder Goethes studiert, hätte sie gewusst, dass sich Hausarbeit und Künstlertum nicht vertragen. Ganz im Ernst. Stellt euch Thomas Mann mit Klobürste und Aidshandschuhen vor, wie er braune Sauce in der Schüssel umrührt. Dann die Wende: Zähneknirschend kümmerte sich Bea um den Haushalt, putzte, wischte, brachte Müll runter und kaufte ein. Ich war glücklich, dass sie der überzeugenden Logik meiner Argumente schließlich doch gefolgt war. Meine Liebe für meine Gönnerin potenzierte sich geradezu.

So saß ich am Rechner und schrieb um mein Leben. Einige Wochen lang. Dann startete ich die Großoffensive: Am Sonntag schickte ich Mails an alle großen und einige kleinere Verlage, die darauf warteten, dass Horst Stengel endlich seinen Bahn brechenden Roman abschloss.

»Sehr geehrte Damen und Herren. Mir ist bekannt, dass Sie für Ihr Herbst- und Winterprogramm noch einen Bestseller suchen. Gerne bin ich Ihnen dabei behilflich. Mein Roman Memoiren eines Blutegels steht kurz vor der Fertigstellung. Um die Arbeiten beenden zu können, benötige ich einen Vorschuss von zwanzigtausend Euro. Bitte überweisen Sie den Betrag kurzfristig an untenstehende Kontoverbindung. Ein Probekapitel liegt bei. Ich bin sicher, die Qualität der Lektüre wird Sie begeistern.»
Vielleicht war das naiv, aber ich glaubte wirklich, dass mir die Verlage die Bude einrennen würden. Leider blieb am nächsten Tag mein Mailpostfach leer. Diverse Tipps zur Penisverlängerung, Busenvergrößerung oder Bestellmöglichkeiten von Viagraimitationen zählen nicht. Als Bea am Abend mit Ringen unter den Augen vom Stress in der Agentur nach Hause kam, fragte sie sarkastisch »Und? Hat sich in den Pizzakartons in der Diele schon Leben entwickelt?»
»Stell dir vor, ich steh kurz vor Abschluss eines Buchvertrages», umarmte ich sie euphorisch.
»Echt?», spiegelte sich in ihren blauen Augen pures Misstrauen. Hatte ich das verdient? »Wo denn?»
»Ich hab rund zwanzig Verlage angeschrieben. Wäre doch gelacht, wenn da keiner sein Glück begreift. Aber ich werde nicht wählerisch sein. Wer zuerst mahlt, mahlt zuerst. Mein Wort zählt.»
Beas Reaktion enttäuschte mich ein wenig. Ihr Gesichte wirkte verkniffen, sie sagte aber nichts. Stattdessen griff sie meinen Drucker, riss die Verkabelung aus Rechner und Steckdose, öffnete das Fenster und schmiss ihn auf die Straße.
Ich versteinerte, als hätten die Fruchtfliegen auf dem Obstkorb La cucaracha geträllert.
»Was machst du? Wie soll ich meinen Roman ausdrucken? Du weißt, dass ich nur auf Papier korrigieren kann», heulte ich fast, bewahrte mühsam den letzten Funken Würde. Ich würde ihr nicht die Genugtuung geben, mich zum Weinen gebracht zu haben.
»Such dir eine andere Bleibe», fauchte Bea. »Von dir lass ich mich nicht länger verarschen. Deine Stories vom großen Roman, auf den alle Verlage nur warten, glaubst du doch selber nicht. Ich füttere dich nicht mehr durch. Morgen sind deine Sachen hier verschwunden. Finito.»
Nach diesen beeindruckenden Worten schmiss sie wieder die Tür, stürmte ins Schlafzimmer und schloss von innen ab. Vollkommen verrückt die Frau. Dabei liebte ich sie so sehr. Für wen tat ich denn das alles? Sie sollte stolz auf mich sein. Wollte sie lieber einen Putzmann als Partner?
Ich klopfte an ihre Tür.
»Lass uns noch mal darüber reden. Wenn dir soviel daran liegt, wienere ich die Wohnung bis zum Erbrechen. Dann lass ich von der Kunst und verkaufe acht Stunden Lotterielose an ahnungslose Omis. Wenn du das willst, bitte. Beschwer dich aber nicht, wenn ich mit fünfzig in die Kiste gelegt werde und der Pfarrer sagt: ‚Er schrieb gerne, leider reichte seine Zeit nicht.’»
»Verzieh dich einfach! Ich hab genug von deinen Märchen. Du lebst in einer Traumwelt. Werd erwachsen, Horst! Zum Leben brauche ich eine gemütliche Atmosphäre. Du pinkelst neben das Klo und wischst nie weg. Du lässt deine Bierflaschen an allen unmöglichen Orten stehen. Am Meisten habe ich mich über die verschimmelten Spaghetti unter dem Schrank geärgert. Wenn du schon nicht putzt, kannst du wenigstens deinen Dreck entfernen. Tut mir Leid, aber ich kann nicht mehr. Du führst das Leben eines Asozialen. Ich habe jeglichen Respekt vor dir verloren.»

Das war deutlich. Hätte nie gedacht, dass sie die Situation so fehl interpretieren würde. Ein Gefühl tiefer Traurigkeit durchdrang mich. Ich holte mir aus der Küche ein Bier und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Hatte sie etwa Recht? War es schlimm, den Haushalt zu vernachlässigen? Ich wollte doch nur das Beste für uns. Daher hatte ich mich ganz auf den Erfolg als Autor versteift. Wenn meine Bücher erst einmal die Bestsellerliste rockten, hätten wir ausgesagt. Bea könnte den Agentur-Job schmeißen und eine Putzfrau würde die lästige Hausarbeit übernehmen. So what? Vier Bier und unzählige Zigaretten später hatte ich meine Gedanken geordnet und die Lösung der Schuldfrage beantwortet. Bea schmollte noch immer im Schlafzimmer und reagierte nicht auf mein Klopfen. Na gut, bekam sie nicht die Lösung unseres Problems zu hören. Er lag alles an ihrer Definition ihres Parts in unserer Beziehung. Ein Künstler braucht eine Muse, die ihm alle lästigen Alltagsbanalitäten abnimmt. Dies schien sie nicht zu begreifen. Im Gegenteil: Sie sah mich als ihren Muserich, der für Madame den ganzen Haushalt schmeißen sollte. Dabei trug ihre zugegeben elegante Schreibe über Shampoos, PCs oder Nutzfahrzeuge nicht gerade zur Verschönerung unserer Welt bei.

Aber wer nicht will, der hat schon. Wenn sich eine Frau verabschiedet, sucht sich der Literat eine andere, rotzte ich gehässige Gedanken. Ich würde Bea beweisen, dass in mir ein erfolgreicher Schriftsteller steckt. Dann käme sie auf dem Boden auf mich zu gekrochen und würde mich tränenüberströmt um Verzeihung bitten. Ob ich dazu bereit wäre, wusste ich noch nicht. Außerdem: Wenn man sie reden hörte, könnte man mich für das letzte Arschloch halten. Und das war ich definitiv nicht. Ich fokussierte mich zu dieser Zeit nur auf andere Betätigungsfelder, als Bea es gerne gesehen hätte. Aber wenn ich den fetten Verlagsvertrag eingesackt hätte, würde sich das wieder ändern. Irgendwann schlief ich voll finsterer Gedanken über die Ungerechtigkeiten des Lebens ein.

Am nächsten Morgen weckte mich Bea. Im schicken Kostüm für die Welt der großen Worte, die kleine Marken gigantisch erscheinen lassen. Sah schon klasse aus. Insgeheim bedauerte ich unseren unnützen Streit vom Vortag und wollte sie mit einem liebevollen Kuss begrüßen, doch sie schob mich von sich.
»Wenn ich wiederkomme, bist du weg», stellte sie fest. Warm wie grönländische Winternächte.
Diskussion zwecklos.
»Okay», gab ich daher klein bei. »Aber wollen wir nicht…»
»Es ist alles gesagt», unterbrach sie mich unwirsch.
»Nein, ich liebe dich sehr. Ich werde mich ändern. Aber zuerst will ich meinen Roman veröffentlichen. Dann habe ich alle Zeit der Welt für Alltagskram», zeigte ich Einsicht. Doch Bea schien zu merken, dass mich ein Leben als Hausmann nur bedingt begeisterte.
»Das glaubst du doch selber nicht. Aus meiner Sicht hattest du genug Chancen. Es ist besser, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen, als sich jeden Tag zu ärgern. Bitte zieh aus! Ich ertrage die momentane Situation nicht mehr», ließ sie sich nicht erweichen.
Jetzt hieß es nur noch, mit erhobenem Kopf den Rückzug anzutreten.
»Du wirst nicht merken, dass ich jemals hier gewohnt habe», unterdrückte ich das Zittern in meiner Stimme. Das meinte ich auch ernst. Als sie die Tür ins Schloss fallen ließ, rief ich Andi an.
»Klar, kannst du bei mir wohnen. Ich komm vorbei und helfe dir beim Transport.»
Innerhalb von zwei Stunden hatten wir meine Habseligkeiten, die aus Wäsche, Büchern und meinem Rechner bestanden, in seinem Keller verstaut. Bevor ich zum vorerst letzten Mal die Wohnungstür schloss, legte ich einen Zettel auf den Wohnzimmertisch. ‚Bin bei Andi’. Konnte ja sein, dass sie sich bald vor Sehnsucht nach mir verzehrte. Einen Monat später bezog ich meine fünfundvierzig Quadratmeterbude auf der Limmer, im Herzen des Kiezes. Ich wollte nicht, dass Andi mich auch irgendwann als Schmarotzer empfand. Bea hatte mich bis dahin nicht angerufen. Freunde haben eine höhere Halbwertzeit als Frauen, habe ich festgestellt. Und hier bin ich nun.

Ach ja, Petra hat mich über meine Beziehung zu Bea befragt.
»Nichts», antworte ich kurz. »Wir haben uns einfach auseinander gelebt. Ich habe mich weiterentwickelt, sie nicht. Aber ich denke, dass wir in naher Zukunft wieder zusammenkommen.»
Andi grinst, sagt aber nichts.
»Was machst du denn so? », frage ich Petra.
»Danke, dass du fragst», verzieht sich Petras Gesicht. »Andreas interessiert sich überhaupt nicht, was ich mache und wie es mir geht.»
Eine noch so harmlose Frage kann wie Pandora den Deckel der Beziehungsbüchse öffnen. Böser Fettnapf.
An Andis verkniffenem Gesicht sehe ich, dass er sich schon Gedanken macht, wie er an eine neue Frau kommt. Die Periode des lauen Lebens auf Petras Kosten scheint sich für ihn dem Ende zuzuneigen. Der Typ ist beziehungsgestört.
»Ich arbeite in einem Reisebüro. Das ist total ätzend. Die Kolleginnen mobben mich. Für mich ist das einfach nicht zum Aushalten. Eigentlich will ich was ganz anderes machen. Irgendwas mit Tieren oder so. Die liegen mir mehr als Menschen. Vielleicht wäre ein Zoo klasse für mich. Ich werde irgendwann versuchen, dort einen Praktikumsplatz zu bekommen, wenn es mir besser geht. Zurzeit bin ich krank geschrieben, weil ich unter Dauermigräne leide. Ich muss mich laufend übergeben. Heute Abend ist es besser. Aber wenn ich nach Hause komme, geht es sicher wieder los», nörgelt sie monologisierend.
Gut, dass sie jetzt schon ihre spätere Befindlichkeit kennt. Ich kann Andi verstehen, dass er nie fragt, wie sich Petra fühlt. Sie erzählt es ihm wahrscheinlich dauernd.

Frauen wie Petra sind der Grund, warum ich mich weigere, potentielle Sexualpartnerinnen in Diskotheken aufzugabeln. Die leckere Schale blendet und lockt, der Kern ist faulig und stößt ab. Aber Andi kommt es hauptsächlich auf die Solvenz seiner Liebschaften an. Ob allerdings eine Reisebürotippse genug verdient, um Andis Dandy-Lifestyle zu finanzieren? Mir scheint diese Beziehung dem Untergang geweiht.
»Unsere Mitbewohner mobben uns auch», fährt Petra weiter auf dem Schlechte-Laune-Trip. »Nur weil ich einen Brief an die Hausverwaltung geschrieben habe, dass die Katzen der Habermüllers nicht in den Hausflur kacken sollen. Aber das ist kein Grund, mir einen Vogel zu zeigen. Ich habe doch auch Gefühle», kullert eine Träne ihre Wange hinunter.
»Hättest du auch nicht machen sollen», ergreift Andi das Wort. Habe schon gedacht, er hätte ein Schweigegelübde abgelegt. »Hat mich an die Stasi erinnert. Künstler leben und lassen leben. Was juckt uns die Katzenscheiße? Auf der Welt verhungern Kinder, es gibt Kriege und meine Bilder werden von der Szene verkannt. Warum kümmerst du dich angesichts dieser Tatsachen um die Nachbarn?» Er hat sich wirklich in Rage geredet.
»Darauf muss ich mir erst mal ne Line ziehen. So was kann ich nicht ab. Noch jemand? »
Petra schweig beleidigt und starrt auf den Boden. Ich lehne dankend ab. Andi schüttet etwas weißes Pulver auf den Tisch und zieht sich mit einem Zehner ein Näschen. Er wischt sich übers Gesicht und strahlt.
»Jetzt bin ich wieder entspannter. Lass uns nach Hause gehen, ich bin heiß auf dich; Baby“, strahlt er, als hätte es keinen Streit gegeben.
Petra blickt ihn finster an. »Das könnte dir so passen. Vorhin hast du mich beleidigt, und jetzt willst du ficken. Nicht mit mir.» Sie schmollt. Als ob Andi sich dadurch beeindrucken ließe.
»Never mind, dann geh ich auf die Rolle. Warte nicht auf mich. Was hast du noch vor Hotte?»
»Ich werd noch ein wenig schreiben», überleg ich. »Fred Sauger ist gerade zum Präsidenten von Bayern München gewählt worden. Der Club wird dadurch überaus beliebt, aber auch erfolglos. Ein ironisches Kapitel über die Unvereinbarkeit von Macht und Charakterstärke. Morgen geht’s zur Arbeitsamt, mein Jobberater will mich sprechen. Hat wahrscheinlich einen neue Stelle für mich auf Lager. Abends ist Slam. Wird ne grandiose Show. Kommst du?», lege ich meine Agenda offen.
»Weiß noch nicht», befindet sich Andi mental bereits in irgendeinem Aufreißerschuppen. Ich tippe auf das Brauhaus. Ist zwar uncooler als ein Achtziger-Oberlippenbart, aber dort tragen die Frauen Matratzen auf dem Rücken. Habe ich gehört, war selber noch nie drin. »Muss los, man sieht sich. Ciao. Pety Süße, warte nicht auf mich. Wird eine lange Nacht.»
Das ist ein rascher Abschied. Petra sieht noch frustrierter aus. Hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Sie möchte auch ein Bier. Bekommt sie. Ich bin ein guter Gastgeber. Über was sollen wir schnacken? Ich habe keine Lust auf ihr Gejammer. Vielleicht will sie noch über Andi herziehen. Für Getratsche bin ich nicht zu haben. Es wäre mir am Liebsten, wenn sie geht.
Meine Menschenkenntnis erweist sich wieder als unfehlbar.
»Andi bin ich scheißegal. Der sucht jetzt seinen Spaß. Er betrügt mich, wenn ich aus den Augen bin. Habe ich das verdient? Sag du es mir: Das habe ich doch nicht verdient, oder!»
Oh Gott, was habe ich verbrochen, fluche ich innerlich, sage aber »Nein, auf keinen Fall.»
»Du bist anders. Bei dir habe ich sofort gemerkt, dass du mich verstehst», macht sie mir auf einmal schöne Augen.
»Ich weiß nicht», murmele ich hilflos. Habe schon die eine oder andere Flasche zuviel intus.
»Sei nicht so bescheiden», rückt sie mir in ihrem silbernen Fummel auf die Pelle. »Weißt du, dass du sehr schöne Haare hast.»
Oh Gott, direkter geht’s nimmer. Normalerweise spucke ich nicht ins Glas. Die Gelegenheiten sind selten. Aber mit der Freundin meines besten Freundes? Niemals. Lieber wichsen, bis die Hände vor Altersgicht erstarren.
»Du bist die erste, die auf meine Al-Bundy-Gedächtnisfrisur steht. Danke. Aber lass uns den Abend beenden. Ich bin schon müde. Werde auch nichts mehr schreiben», lüge ich und blicke zur Uhr. Erst kurz nach zehn.
»Ich kann nicht nach Hause gehen», fängt sie auf einmal an zu heulen. »Da bin ich ganz alleine. Und Andi poppt eine andere. Ich fühle mich so einsam.»
Mir fällt darauf nichts ein, also schweige ich.
»Sag doch auch mal was», gibt sie keine Ruhe und wischt sich die Tränen von den Wangen. »Findest du gut, was er macht?»
Ich hab keine Lust auf Diskussionen. Daher sage ich »Nein», ohne genau zu wissen, worauf sie sich bezieht. Aufs Fremdgehen, auf die Stasivorwürfe oder was auch immer?
Ihr Kopf schmiegt sich an mich, ihre Hand wandert zu meinem Schritt. Scheiße, jetzt muss ich aktiv werden, sonst habe ich nicht nur eine Exfreundin (Bea) sondern auch einen Exfreund (Andi). Zuviel Verluste für ein Jahr.
»Du, lass das. Es hilft dir nicht in deiner momentanen Situation und macht uns beide unglücklich. Auf Regen folgt auch Sonnenschein», labere ich Psychomist in der Hoffnung, sie ohne Gewaltanwendung stoppen zu können.
»Pst», hat ihre Hand meinen Reißverschluss geöffnet und tastet sich in Richtung Heiligtum vor.
Ich werde scharf. Die Situation ist kurz vor der Eskalation. Aber auf so einen Rachefick habe ich keine Lust, sage ich mir. In Wirklichkeit will sie nur Andi. Und wenn die beiden sich trennen? Mit Schrecken sehe ich die Eheleute Horst und Miesepetra Stengel vor meinem geistigen Auge. Das kühlt ab.
Ich greife ihre Hand, ziehe sie weg und schließe meine Hose.
»Ich find dich wirklich süß, aber Andi ist mein bester Freund. Geht einfach nicht für mich. Das ist eine Frage der Ehre.»
Sie fühlt sich jetzt auch von mir beleidigt, traut sich aber nicht, mir Vorwürfe zu machen. Ihr ist schon klar, dass es moralisch zweifelhaft ist, mit dem besten Freund seines Freundes zu ficken.
Wir murmeln beide, dass wir unbedingt schlafen müssen.
»Bis bald», verabschiedet sie sich endlich.
»Würde mich freuen», lüge ich. Als sie raus ist, dusche ich kalt. Das macht nüchtern und vertreibt den letzten Rest Geilheit. Anschließend lege ich mich ins Bett und dämmere sofort weg.

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