Samstag, Juli 10, 2010

Bestseller Kapitel 02: Vagina Blues



II. Vagina-Blues

Am nächsten Morgen fühle ich mich matschig. Ich vermisse Bea stärker als sonst und bin froh, dass ich nicht mit Petra im Bett gelandet bin. Frauen wie sie bringen nur Ärger. Um halb zehn, ich rühre lustlos im Kaffee rum, ruft Andi an. Normalerweise pennt er bis zur Mittagstalkshow im Proletariats-TV. Hat bestimmt einige Lines inhaliert, um den Sandmann in Rente zu schicken.
»Nickerchen beendet, Amigo?»¸ klingt Sister Cocaine durch seine Stimme. »Wie war’s mit Petra? Seid ihr zusammen in die Kiste gestiegen?»

Er muss hellseherische Fähigkeiten haben. Gott sei Dank habe ich ein reines Gewissen.
»Was denkst du von mir?», frage ich entrüstet. »Fange nie etwas mit der Freundin eines Freundes an. Ist meine eiserne Grundregel seit frühster Jugend.»
»Hätte mir nichts ausgemacht», klingt Andi enttäuscht. »Wirklich. Petra ist Geschichte. Bin gestern noch durch die Kneipen gejettet. Da habe ich Romy kennen gelernt. Die Frau ist Fotografin. Wirklich interessant. Sie lichtet Frauen in historischen Kostümen ab. Passt gut zu meinen aktuellen Projekten. Habe lose Kontakte nach Stendal. Die wollen so eine Art Skulpturen-Disney veranstalten. Könnte mir gut vorstellen, dass Romys Fotos meine Objekte illustrieren. Wir quatschen über ein mögliches Konzept. Na, du kennst das. Da kam eines zum anderen. Sie wohnt am Pfarrlandplatz, ist ja nicht weit. Wir haben uns dann ein wenig amüsiert. Ich glaube, da wird etwas Längerfristiges draus. Hab so was wie Liebe gespürt. Wird ganz ordentlich von ihren Eltern unterstützt. Der Vater ist ein hohes Tier bei der Polizei.»

Ich schütte mir einen neuen Kaffee in die Tasse und beiße vom Nutella-Knäckebrot ab.
»Und was ist mit Petra?», frage ich. »Weiß die schon von deiner neuen Liebe?»
„Nein, bist du jeck?», lacht Andreas. »Habe keine Lust auf Diskussionen. Die ist ziemlich schräg drauf. Ich meld mich nicht, und dann merkt sie von selber, dass ich kein Bock mehr auf sie habe. Ich habe wirklich gehofft, dass ihr euch vergnügt hättet. Das hätte mir ein wenig das Gewissen erleichtert. Sie hat schon öfter versucht, sich durch Fremdvögeln zu rächen. Dann hätte ich den Entrüsteten spielen können, dessen Gefühle bis in die kleinsten Partikel verletzt sind. Klingt besser, als einfach „Du langweilst mich.“ zu sagen.»
Andi macht sich manchmal das Leben zu einfach. Aber das ist seine Angelegenheit.
»Wenn Petra anrufen sollte: Du hast seit gestern Abend nichts von mir gehört», beschwört er mich.
»Klar», sagte ich. »Freunde helfen sich doch immer.» Scheiße, jetzt zieht er mich in seinen Beziehungsmist. Nachher muss ich noch Petras Seelentröster spielen.

»Wusste ich doch, dass ich auf dich zählen kann. Thema verfrühstückt. Was machst du heute, sollen wir uns auf einen Latte im Notre Dame treffen?»
Das Notre Dame gilt in der Szene als megauncool. Das macht die Kneipe für Andi zum Walhalla. Er sagt, lauf nicht dem Trend hinterher, kreiere ihn. Zudem beneide ich Andi um die Leichtigkeit, jedes Problem mit jungenhafter Nonchalance zu verdrängen. Warum kann ich Bea nicht so einfach abtun? Aber meine Gefühle lassen sich einfach nicht steuern. Zumindest habe ich noch nicht das Lenkrad entdeckt, womit ich mein Leben in eine erfreuliche Zukunft fahren kann. Wenn ich es finde, werde ich bestimmt die eine oder andere Millionen als Motivationstrainer verdienen. Tschaka-Tschaka.

Halb zehn verrät mir meine Uhr. Verdammt, um zehn habe ich einen Termin im Job-Center.
»Vielleicht gegen dreizehn Uhr. Ich ruf dich an, muss jetzt los», würge ich Andi ab.
»Schade», gibt sich der enttäuscht. »Ja, vielleicht sehen wir uns. Ruf mich an, ob es klappt. »
»Ciao, Muchacho.»

Ich steige in die Straßenbahn Richtung Steintor und beobachte, wie Hannover erwacht. Die Dönerladenbesitzer polieren die Scheiben ihrer Gourmettempel, die Ein-Euro-Shops präsentieren Plastikharken und Gummibäume. Noch nicht viel los in Limmer. Fast pünktlich treffe ich ein.
Mein Vermittler heißt Gerd Siebke. Um die fünfzig, schlohweißes wallendes Haar, Hornbrille und Hemden, die immer einige Nummern zu groß sind, so dass er wie ein aufgeblasener Luftballon wirkt.
Über die Jobcenter wird in der Presse viel Schlechtes berichtet. Stimmt alles. Doch mit Gerd ist alles anders. Mit ihm habe ich ins Glückbuffet gegriffen und eine Pizza XXL herausgefischt. Der Mann ist eine große Seele, Mahatma Siebke. Hätte vielleicht eher Sozialarbeiter werden sollen. Fühlt sich persönlich für die Schicksale seiner Schäfchen verantwortlich und glaubt an mich. Er hat schon oft einen interessanten Job für mich an Land gezogen, der Kohle in den leeren Heizungskeller geschaufelt hat.

»Guten Morgen, Herr Stengel», schüttelt er mir überschwänglich die Hand. Eines Tages wird er mir den Arm verrenken. Ob das als Arbeitsverletzung zählt? »Schön, dass Sie doch noch kommen. Wie geht es Ihnen?»
Normalerweise wird keinem „Kunden“ die Hand geschüttelt. Er soll gleich merken, dass er in den Hallen der Agentur für Arbeit weniger als ein Nichts ist. Ein Niemand, der lediglich eine lästige Zahl in der Arbeitslosenstatistik präsentiert, die der Manager in die Statistik Vermittlung transferieren soll. Doch Siebke ist Mensch und pfeift auf Vorgaben seiner Chefs in Nürnberg. Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis. Kaum zu glauben, aber wahr. Ich habe den Eindruck, dass er mich als eine Art verlorenen Sohn betrachtet, dem er helfen muss, auf den Pfad des erfolgreichen Lebens zurückzukehren.
Wenn mir ein Job nicht zugesagt hat, war das immer okay. Er hat mir noch nie mit Kürzung meiner Bezüge gedroht. Kein Problem, dann hat er halt einen anderen aus dem Hut gezaubert. Klasse Typ. Er schenkt mir einen Kaffee ein.
»Es geht. Wissen Sie, die Trennung von Bea macht mir noch immer schwer zu schaffen», nehme ich dankend einen Schluck.
»Es ist hart, wenn sich zu der beruflichen Misere eine private hinzugesellt. Schon der Fußballgott Jürgen Wegmann sagte ‚Erst hatten wir kein Glück, dann kam das Pech hinzu’», menschelt Gerd. Wenigstens einer hat Verständnis für mich.
»Haben Sie denn Bewerbungen geschrieben?»
»Eher weniger», gestehe ich. Bei Siebke ist Ehrlichkeit möglich. »Ich habe mich in den vergangenen Wochen auf meinen Roman konzentriert. Da blieb keine Zeit für anderes. Ich lande damit den ganz großen Wurf, das ist klar. Leider ist bis jetzt noch kein Verlag angesprungen. Habe diverse Leute wegen finanzieller Vorfinanzierung angeschrieben.»
»Das ist oft ein langer Weg», seufzt Gerd. »Haben Sie Deutschland sucht den Superstar gesehen? »
So einen Kommerzscheiß lehne ich ab. Sehe höchstens Basketball in der Flimmerkiste.
»Am Rande», lüge ich jetzt doch ein wenig.
»Der Sieger, dieser Thomas Godoj, war jahrelang arbeitslos. Dabei hat er auch schon früher wirklich gute Musik gespielt. Gehen Sie ins Internet und googeln Wink. Das müsste Ihnen gefallen. Leider blieb der Band der Durchbruch verwehrt. Und durch seinen Auftritt bei Bohlen wundert sich jetzt jeder, dass dieser Wunderknabe nicht früher entdeckt wurde. Irgendwie erinnern Sie mich an ihn. Ich bin fest überzeugt, dass auch Ihr Name eines Tages auf dem Titelbild einer Zeitung zu lesen ist.»
Ich kenne zwar diesen Thomas nicht, aber Gerds Worte balsamieren meine Seele, richten mich auf, überzeugen mich, auf dem richtigen Weg zu sein.

Mein Elternhaus unterstützt meine Ambitionen weniger. Mutter sagt immer »Ich habe früher auch Tagebuch geschrieben. Und wen hat es interessiert? Den Verleger Niemand. Du wirst nie von deinem Herumgeschreibe leben können.» und Vater fügt zornig hinzu »Dass du dir mit fünfunddreißig noch mit solchen Flausen den Kopf voll stopfst. Junge, dazu habe ich dich nicht erzogen. Werd endlich erwachsen.» Muss der gerade sagen.

»Danke, dass sie an mich glauben. Sie bekommen auf jeden Fall ein Exemplar. Mit Widmung», verspreche ich und meine es auch so.
»Das ehrt mich», freut sich Gerd. »Ich habe früher auch geschrieben», gesteht er. »Lyrik über Jahreszeiten und Obst. Politik war auch dabei. Damals war ich bei den Grünen, bin auf Ostermärschen mitmarschiert. Meine Freunde im Wendland, ein Atommülllager hat euch das Hirn verbrannt, dort wo eine Wiese stand, der Widerstand uns nun vereint», deklamiert er. »Wie finden Sie das, Herr Stengel?»
»Gut», sage ich. Lyrik ist zwar nicht meins, klingt auch etwas holprig aber Siebkes Message rockt. »Finde ich klasse, dass Sie sich gegen das Lager gewehrt haben. Es lassen zu viele Leute, alles mit sich machen.»
»Naja», blickt Siebke etwas verlegen auf seinen Kuli. »Letztendlich haben wir nicht viel bewirkt. Das Lager wurde errichtet. Heute bin ich auch nicht mehr aktiv engagiert, eher resigniert. Die Transporte werden durchgeführt, egal wie viele Menschen dagegen protestieren, sich sogar auf die Schienen ketten. Und politisch sind die Grünen auch nichts Besonderes mehr. Willkommen im Establishment. Daher versuche ich wenigstens im Job meine Ideale zu verwirklichen. Solange der Staat mich lässt», wirkt er niedergeschlagen.

Dann hellt sich seine Miene wie auf. »Ich kann ihnen übrigens eine Stelle anbieten. Eine Firma sucht jemanden für den Verkauf von Computerhardware. Das passt zu ihrer kaufmännischen Umschulung.»
Richtig. Warum ich in etwas auf dieser Businessschiene gemacht habe, ist mir noch heute ein Rätsel. Als die Studiengebühren eingeführt wurden, war das Leben als angehender Germanist einfach nicht mehr finanzierbar. Literaturwissenschaft als Langzeitstudi ist ein teures Hobby. Wollte sowieso nie im Establishment als Pauker ackern. Aber das ist Geschichte. Ich kehre aus den Tiefen meiner Biographie in Siebkes Amtsstube zurück. Ein Job, warum nicht? Ich wäge Zeitverlust gegen Kohle ab. Die Situation meines Geldbeutels hat die überzeugenderen Argumente.
»Ja, stimmt. Ich bin interessiert», freue ich mich auf kulinarische Abwechslung. Nutellaknäckebrot wird auf Dauer langweilig. Und zu mehr reicht mein Einkommen zurzeit nicht.
Gerd druckt mir die Adresse aus und vereinbart mit meinem potentiellen Chef einen Termin für den nächsten Tag um elf Uhr. Mist, ist ja relativ früh.
Ich verabschiede mich dennoch fröhlich.
»Wenn Sie irgendetwas haben, können Sie mich jederzeit anrufen», drückt mir Siebke eine Visitenkarte mit seinen privaten Telefonnummern in die Hand. Wohnt in der Südstadt. Nette Wohnlage, vielleicht etwas zu etabliert. Aber in seinem Alter kann man auch abseits des Zeitpulses campieren. Immerhin hat er früher gegen den Mainstream gerockt. Das können nicht viele Oldies von sich behaupten. Von seinem Angebot mache ich sicherlich Gebrauch.

Heute Mittag habe ich keine Lust auf Andi, fahre euphorisch gestimmt nach Hause und durchsuche meinen Schrank nach Kleidung für das Vorstellungsgespräch. Geeignetes Mangelware. Eine Krawatte, ein Muss für einen Bürojob besitze ich nicht. Und um einen dieser Halsabschneider zu kaufen, fehlt mir das Geld. Allerdings: Die Firma soll mich kennen lernen, wie ich bin. Bringt nichts, wenn ich mich verkleide. Wenn sie auf Maskeraden stehen, bin ich der Falsche. Ein rotes Hemd, vielleicht ein wenig knallig, und meine einzige heile Jeans müssen es tun. Meine Punk-Look-Klamotten scheiden aus. Ich glaube nicht, dass sie auf so was stehen. Aber man weiß nie. Die IT-Branche soll innovativ und freigeistig sein. Ein Vorstellungsgespräch ist jedoch nicht die ideale Testumgebung.

Das Telefon klingelt. Bestimmt Andi, der fragt, wo ich bleibe. Ist er aber nicht. Bea. Von Zeit zu Zeit fühlt sie sich seit Neustem berufen, sich nach meinem Wohlergehen zu erkundigen. Glaubt anscheinend, ohne ihre Kontrollanrufe würde ich noch ein paar Stufen auf der sozialen Leiter hinunterpurzeln.
»Wie geht’s, wie steht’s», macht sie auf locker.
Sofort spielt sich in meinem Kopf ein Hugo-Race-Song ab: ‚It’s the old wound fever, pain in my heart.’ Ein Schmerz durchzuckt mich, das Gefühl des Verlustes breitet sich in meinem Nervensystem aus. Aber noch ist nicht alles verloren, mache ich auf Zweckoptimismus. Die kommt zu mir zurück.
»Super, ich habe morgen meinen Job, und die Verlage reißen sich um meinen Roman», gebe ich an, als würden meine Endorphine explodieren. Übertrieben, aber vielleicht wirkt es.
»Komm zu mir zurück! Ich kann dir ein wundervolles Leben bieten. Wenn ich mich erst mal konsolidiert habe, können wir ruhig über Heirat und Familie nachdenken», werfe ich Signalworte aus Beas Spießer-Welt auf den Spieltisch, nach denen jede Frau geifert, die auf Status geil ist. Wie meine Ex. Ich hege natürlich keine Familienpläne, aber ich hoffe, dass ich bei Bea den richtigen Knopf drücke.
»Es freut mich, dass es dir gut geht. Aber ich weiß nicht, ob das mit uns beiden noch Zweck hat», gibt sie sich zurückhaltend. »Klar, ich habe noch Gefühle für dich. Aber es ist zuviel passiert. Da brauch ich einfach Zeit, will sehen, ob du wirklich dein Leben selber auf die Kette kriegst. Über Hochzeit zu reden, macht da meiner Meinung nach wenig Sinn. Es wundert mich, dass du mit so was ankommst. Bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass du der Familientyp bist.»
»Du hast dich doch aufgeregt, dass ich nichts im Haus mache und nur auf deine Kosten lebe. Jetzt will ich arbeiten, und es reicht dir noch immer nicht. Und Familie heißt bei mir, dass ich es ernst mit dir meine. Aber das scheint dich nicht zu interessieren. Hast du einen anderen?», stelle ich die entscheidende Frage.
»Das hat nichts mit anderen Männern zu tun», reagiert Bea etwas genervt. »Klar, da gab es den einen oder anderen zwischendurch. Aber nichts Ernstes. Und bei dir?“
»Es gibt einige Frauen, die auf einen kurz vor dem großen Erfolg stehenden Schriftsteller heiß sind. Gerade junge Literaturstudentinnen fahren auf mich ab. Habe mir schon überlegt, mir eine Geheimnummer zuzulegen», übertreibe ich geringfügig.
»Schön für dich», klingt sie beleidigt.
»Aber ich will nur dich. Unsere Liebe war einzigartig, eine Symbiose von Sonne und Mond, ein intergalaktische Verschmelzung», fallen mir ad hoc nur abgeschmackte Metaphern ein.
»Lass mir Zeit. Ich bin noch nicht so weit. Aber wenn du eine andere kennen lernst, will ich dir auch nicht im Weg stehen. Ich kann nichts versprechen», verbreitet sie wenig Optimismus. Aber ein blasser Schimmer der Hoffnung regt sich doch in meinem Herzen.
»Du bist jederzeit willkommen», öffne ich ihr sperrangelweit die Tür zurück ins Glück.
»Wir werden sehen. Man hört sich», scheint sie für den ersten Schritt noch nicht bereit.
»Ja, ich freu mich immer, deine wohl tönende Stimme zu hören», trage ich dick auf.
Würgähnliche Geräusche dringen aus dem Hörer.
»Hast du dich verschluckt? », fragte ich besorgt.
»Bis bald», legte sie auf. Na, in einem Monat wird sie mich zurückwollen, prognostiziere ich.
Andi meldet sich nicht. Hat vielleicht was Besseres vor. Schade.

Ich leg mich auf Bett und stellte mir den Wecker auf neunzehn Uhr. Als ich um halb acht am Faust eintreffe, hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Das Faust ist ein alternativer Verein direkt an der Leine gelegen. Es residiert in den Örtlichkeiten einer bankrotten Bettenfedernfabrik. Im Saal finden Konzerte statt. Habe dort bereits Philip Boa und die Ruhrpottprolls von Sodom gesehen, also keine Nullachtfünfzehntruppen. Dort kannst du Leute treffen, die es sonst nirgends gibt. Alte MLPD-Fuzzis, Atomkraft-Nein-Danke-Aktivisten, sogar Hippies haben sich dort ein Reservat errichtet. Bunt wie Linden. In der Warenannahme geben sich Theater und Literatur die Ehre.
Einmal im Monat füllt der Dichterwettstreit „Wortmacht“ den Raum. Ein geiles Gefühl vor hundertfünfzig bis zweihundert Leuten seine Texte vorzutragen. Ich mag den Ort, ist irgendwie meine kulturelle Heimat innerhalb Hannovers. Berlin hat natürlich quantitativ mehr zu bieten, aber ich mag es eher beschaulich.
Duffy, einer der Moderatoren, begrüßt mich an der Kasse.
»Hotte, schön, dass du dabei bist. Liest du?»
»Klar, Thema war heute Identität oder?», bin ich mir selbst nicht sicher, ob ich den richtigen Text verfasst habe.
»Si, ich trag dich in die Liste ein. Mal schauen, wie viele kommen. Das Wetter ist leider suboptimal.»
Duffy ist ein schlanker Schlacks mit braunen ins Gesicht fallenden Haaren Ende zwanzig. Er schreibt selber politische Lyrik, hat auch schon ein Buch und eine CD unter den Namen Phonopoets veröffentlicht. Als Vortänzer ist er zusammen mit Yannick einsame Klasse. Der steht in Lederweste und Hemd, cool wie die Inkarnation eines Rockers hinter dem Büchertisch. Er hat in verschiedenen Social Beat-Magazinen veröffentlicht und arbeitet für das Faust und das Online-Magazin Linker Lulatsch.
»Horst, bin mal gespannt, was du heute auf Lager hast», drückt er mir die Hand. »Wird spannend. Leute von außerhalb kommen wahrscheinlich nicht.»
Ich nehme in der zweiten Reihe Platz. Langsam füllt sich der Theaterraum. Der Adrenalinpegel steigt. Zur Beruhigung gehe ich nach draußen, um zu rauchen.

Mein Handy klingelt. Hat Bea endlich die richtige Entscheidung getroffen?
»Spreche ich mit Herrn Stengel, Herrn Horst Stengel?» fragt eine sympathische Altstimme.
Mist, ein Callcenter, der mir irgendeinen fantastischen Scheiß aufschwatzen will, bei dem ich fünfzig Euro im Monat zahle. Bin einmal auf so eine Tante reingefallen, nie wieder.
»Was Sie mir auch verkaufen wollen, ich brauche es nicht!», stelle ich zu Beginn unserer wunderbaren Konversation meinen Standpunkt klar.
»Ich will Ihnen nichts verkaufen. Im Gegenteil. Ich heiße Gisela Ahmert, mir gehört der Ahmert-Verlag. Sie haben uns Ihren Roman geschickt, und was soll ich sagen: Ich war restlos begeistert. Wir wollen Sie verlegen.»
Mir fällt die Kinnlade herunter.
»Hallo, sind Sie noch da? »
»Klasse, das freut mich. Sie haben Glück, dass Sie die erste sind. Wenn mir Ihr Angebot zusagt, erhalten Sie den Zuschlag», offenbare ich meine Geschäftsprinzipien.
»Das freut mich. Ein aufrechter junger Autor. Das lässt sich gut vermarkten. Was halten Sie davon, wenn wir uns persönlich kennen lernen? Sie kommen in unserem Verlagshaus vorbei, können sich ein Bild von Ihrer neuen literarischen Heimat machen und unterzeichnen den Vertrag.»
Das klingt ja besser, als alles, was ich mir je erträumt habe. Die reißen sich um Horst Stengel.
»Aber Ihnen ist klar, dass mein Roman noch nicht komplett fertig gestellt ist? Es fehlt nicht mehr viel, aber ich will ehrlich sein, ein bis zwei Monat werde ich noch brauchen», spiele ich mit offenen Karten.
Gisela lacht. »Das macht nichts. Sie konnten uns von Ihrem Potential überzeugen. Wir wollen Ihr Buch unbedingt. Wie sieht es aus? Würde Ihnen übermorgen in der Mittagszeit passen?»
Die Frau hat mich mit Haut und Haaren. Wer von meinen Slamerkollegen kann schon einen Buchvertrag vorweisen. Das hebt mich in höhere Regionen. Stolz schwellt meine Brust und durchwabert meinen kompletten Körper.
»Wo sitzen Sie denn?», kann ich mich partout nicht an den Verlag erinnern. Sind auch wirklich viele Adressen gewesen, die ich angeschrieben habe. Aber die Plackerei hat sich gelohnt, wie man sieht.
»In Offenburg, das liegt in Baden-Württemberg in der Nähe von Straßburg. Gerbergasse 11. Darf ich mit Ihnen rechnen?»
Darf sie, sie kriegt von mir alles, was ich habe. Gisela Ahmert, die Frau, die meinen Wert als Autor als erste zu schätzen weiß. Ohne sie zu kennen, habe ich mich in sie verliebt.
Duffy winkt mir. Es geht los. Ich schmeiße die Kippe in den überquellenden Ascher vor der Tür. Hat sich gut gefüllt, der Laden. Bestimmt hundertsiebzig Leute.
Der Opener erklingt, ein eingängiger schneller Punkrocksong. Hab noch immer nicht herausgefunden, wer ihn singt. Klingt nach Toten Hosen. Dann erklärt Yannick die Regeln.
Die Reihenfolge der Autoren wird gelost. Jeder liest seinen Text, das Publikum bewertet Inhalt und Performance von 1 – 10. Die ersten drei gewinnen Preise, die meistens aus Bonus-CDs von Musikzeitschriften bestehen. Reich wird der Autor also nicht. Es geht um den Spaß, und der ist reichlich vorhanden. Manche Kollegen touren durch die ganze Republik. Für Ruhm und Ehre.
Ich bin als vorletzter an der Reihe. Am schönsten finde ich Auftritte in der Mitte. Da ist das Publikum angeheizt, und den Rest des Abends kann ich mich dem Bier widmen. Vor dem Auftritt zu trinken, hat sich als wenig vorteilhaft erwiesen. Alkohol nimmt der Aussprache die notwendige Präzision.
Da kann schon mal ein vernuschelter Vortrag rauskommen, den das Publikum nicht versteht. Ist mir alles schon passiert.

Antje Fellatio hat die Ehre den Saal vorzuwärmen. Sie klettert auf die Bühne, trägt keinen Slip unter dem Minirock, darüber eine offenherzige Bluse, die mehr anbietet als verhüllt. Etwas offenherzig, aber eine starke Braut. Erinnert mich an Madonna zu Material-Girl-Zeiten. Sexy bis ins letzte Schamhaar.
»Guten Abend, Hannover. Seid ihr so gut drauf wie ich?», haucht sie ins Mikro.
Vereinzelte Zustimmungsrufe, einige brüllen auch »Ausziehen!». Das gefällt ihr sichtlich.
»Der Abend ist noch lang. Mein Text heute heißt Vagina Secret.»
Gekonnt wartet sie die Reaktionen des Publikums ab. Ihre Bühnenpräsenz hätte ich auch gerne. Sie rückt sich ein letztes Mal das Mikro zurecht und startet:

»Ihr sitzt unter meinen Beinen und fleht,
Antje, erotische Göttin, gib uns dein Vagina-Sekret.
Ich lass euch flehen und bitten
Damit ihr nicht verdurstet zeig ich meine Titten.


Mein Aphrodisiakum verspricht und ich verheiße,
wer mich liebt, liebt mich, wenn ich scheiße,
Körperausscheidung liegen in der Natur,
drum trinkt mein Vagina-Sekret pur.»

Dabei reibt sich ihr Muschi. Ist schon ziemlich pornographisch. Manche Zuschauer blicken pikiert zu Boden, doch die meisten applaudieren frenetisch. Das ist definitiv ein Favorit auf den Tagessieg, obwohl der Opener selten siegt und ich nicht weiß, was die anderen zu bieten haben. Duffy kritisiert freundlich, dass der Zusammenhang mit dem Thema Identität nicht ersichtlich sei. Doch das stört Antje wenig. Grinsend zeigt sie ihm den Fuck-You-Finger, woraufhin er sich ironisch verbeugt.
Als nächster betritt Felix die Bühne, ein blasser Student mit langen Haaren, den ich auf den ersten Blick unsympathisch finde. Wirkt intellektuell, was aber nichts Positives heißt, wie ich fürchte.
»Harte Konkurrenz, aber ich trage meinen Text trotzdem vor», begrüßt er patzig das Publikum. Mit einem solchen Spruch hat er bereits verloren. Dazu kommt: Sein Elaborat ist vollkommen ungenießbar. Bereits als er mit der bedeutungsschwangeren Zeile »Der Harlekin reißt der Gesellschaft im Spiegelsaal der Macht die Maske runter» anfängt, wollen mir die Augen zufallen. Säure steigt aus meinem Magen hervor. Dieses nicht enden wollende Poem überschreitet die vorgeschriebene Zeit von sieben Minuten deutlich. Doch keiner buht ihn von der Bühne. Leider. Da sieht man, wie nett die Hannoveraner sind. In Hamburg, Köln oder Berlin hätte er sich keine Minute vor dem Mikro gehalten.
Ich gehe nach draußen. Rauche, bereite mich entspannt auf meinen Auftritt vor. Gehe den Text mental durch, finde einige holprige Stellen. Na, wird schon schief gehen. Antje raucht auch. Hat sich eine Jacke und eine Hose angezogen. Sie unterhält sich mit einigen männlichen Fans. Sehen wie Studis aus. Die finden sie richtig gut, wie es scheint. Verstohlen tasten sich meine Augen ihre Beine hoch. Jetzt trägt sie einen Slip. Die Offenherzigkeit scheint Show zu sein. Sex sells.
»Klasse, was du dich traust», tönt ein hoch aufgeschossener Wikinger mit blondem Pferdeschwanz.
»Würde gerne dein Vagina-Secret entdecken», geht er gleich aufs Ganze. Sein baugleicher Kumpel nickt, weiß aber nichts zu sagen.
»Seit Charlotte traut sich Frau zu sagen, dass sie kackt. Sollte eigentlich normal sein, aber in dieser Claudia-Schiffer-Welt versuchen alle, sich den von den Medien diktierten Schönheitsidealen anzupassen. Nicht mit mir», grinst sie überlegen, ohne auf die Kontaktversuche der Typen einzugehen.
Dem Wikinger scheint das alles ein wenig unheimlich zu sein. Dennoch baggert er weiter. Subtil.
»Finde ich klasse. Ich bin auch Feminist. Lass uns Körperflüssigkeiten austauschen.»
Antje lacht und klopft ihm mit der flachen Hand auf die Stirn.
»Du Idiot, ist doch nur eine Metapher. Meinst du, ich steig mit jedem Hirni ins Bett. Wenn dir meine Texte gefallen, okay. Aber als Sexualpartner kommst du nicht in Frage. Sorry, such dir ne Andere oder sing den Vagina-Blues»,
Beleidigt trollen sich die beiden.
»Ich wollte dich sowieso nicht, Fotze!»
Lächelnd knickst Antje. Auch wenn mir ihre Texte etwas plakativ erscheinen, imponiert mir die Frau. Cool, denke ich innerlich grinsend. Antje bemerkt mich.
»Hey, du bist doch Hotte», brüllt sie herüber. Ist mir ein bisschen peinlich. Sie kommt auf mich zu.
»Ich habe dich beim letzten Slam gesehen. Das war richtig abgefahren. Ich wünsch dir viel Glück», lächelt sie. Dann drückt sie mir eine Karte in die Hand „Antje Fellatio – Oralakrobatin. Darunter ihre Nummern.
»Ruf mich an, Süßer. Würde mich freuen.»
Sie ist wahnsinnig attraktiv, macht mir aber auch Angst. Es ist völlig normal, wenn Männer mit sexuellen Vokabeln um sich schmeißen, aber Frauen? Vielleicht bin ich noch nicht emanzipiert genug für diese Zeit.
»Mach ich bestimmt», versichere ich. »Muss jetzt rein. Vielleicht sehen wir uns auf der Bühne bei der Siegerehrung.“
Im Saal tobt die Stimmung. Suleiman aus Paderborn ist überraschend erschienen. Ein Highlight der Szene. Der Kerl hätte eine eigene Comedy-Show im TV verdient. Er trägt seinen legendären Text Ein Kanake sieht rot vor. Ausnahmezustand. Suleiman hat große Chancen auf den Sieg. Besser geht’s kaum.
Nach dem Burner folgt ein Downer. Eine Debütantin gibt Einblicke in das Leben ihres Goldfisches. Sieht nett aus, charmant, wie sie mit zittriger Stimme sich krampfhaft am Zettel festhält. Doch auf einen Treppchenplatz hat sie keine Chance. Wohlwollender Applaus. Den Reiz eines Slams macht die Mixtur aus guten und weniger guten Texten. Schlecht ist keiner. Nur Verbesserungspotential wird offensichtlich.
Dann komm ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Antje wieder den Raum betreten hat. Sie trinkt ein Bier am Eingang, lächelt mich an und klatscht. Scheint ja außer Siebke und der Verlegerin mehr Menschen zu geben, die mich gut finden.
Ich trete auf die Bühne.
»Guten Abend, Hannover. Danke, dass ihr da seid. Heute bin ich überglücklich. Ein Verlag hat angerufen, dass sie mein Buch drucken wollen. Dies möchte ich mit euch teilen.» Die Menschen klatschen, sind glücklich. Hannoveraner gönnen, sind nicht neidisch. Ich gerate in den Flow. Der Text trägt sich selber vor. Mimik und Gestik sind perfekt. Glückshormone pulsieren. Jede Betonung sitzt. Ich bin richtig, richtig gut. Der anschließende Applaus bestärkt mich zudem. Was für ein Tag.
Nach mir folgt als letzter Tobias Kunze. Er trägt ein noch heute verfasstes Rapgedicht vor. Cool. Auch ihm gelingt alles.
Dann werden die Stimmen ausgezählt. Ich gönn mir zwei Herrenhäuser, mehr geht nicht, habe morgen ein Vorstellungsgespräch. Dann kommt die Verkündung.
Vierter wird ein junger Mann mit langen Haaren, dessen Auftritt ich verpasst habe. dritter Tobi, zweiter Suleiman. Werde ich erster? Hat es diesmal gelangt? Nein, Antje hat gewonnen. Ich freu mich für sie. Sie bedankt sich. Wirkt jetzt ein wenig schüchtern. Steht ihr. Aus Gewohnheit blicke ich auf mein Handy. Bea hat nicht angerufen. Hätte ja fragen können, wie es gewesen ist. Aber vielleicht hat sie nichts von meinem Auftritt gewusst.
An der Bar treffe ich Mirko Lambrecht. Er gibt das Literaturmagazin Holocaust heraus. Wenn ich ihn sehe, muss ich immer an Bonanza denken, denn sein Zopf wippt unter einem Cowboyhut hervor. Sein stechender Blick wird durch eine Brille gefiltert, deren Farbe auf die seines rötlichen Rapperbartes abgestimmt ist.
»Hat nicht sollen seinen. Vielleicht beim nächsten Mal», klopft er mir jovial auf die Schulter.
»Du hast einen Buchvertrag?», fragt er. Klingt doch so was wie Misstrauen und Neid durch. Sollte ich mich in den Hannoveranern getäuscht haben?
»Unterzeichne ich übermorgen», nehme ich ein Pils in Empfang.
»Du. Einem großen Verlag würde ich nie trauen. Die nehmen dich nur aus und streichen selber den ganzen Profit ein», weiß er zu berichten. »Und wenn sie dich nicht ausnehmen, verhunzt der Lektor dein Buch, dass du es nicht wieder erkennst. Ich veröffentliche nur selber», schmeißt er sich in Pose.
Möchte wissen, wie viele Verlage seine Bücher bisher rausbringen wollten. Ich tippe auf null.
»Ist auch ein Einstellung», antworte ich salomonisch.
»Die einzige wahre, Hotte. Die einzig wahre. Du musst im Leben einen Standpunkt einnehmen. Ich werde nie ein Auto fahren, um den Ölscheichs und den Aralsfuzzis keine Kohle in den Hintern zu blasen. Genauso darfst du keine Ausbeuterverlage protegieren. Das ist auch einer meiner Standpunkte.»
»Respekt», trinke ich einen Schluck. Ich nehme an, dass er sich kein Auto leisten kann. Aber es klingt besser, ideologische Gründe statt finanzielle anzuführen.
»Ich habe sogar eine Klage beim Bundeskartellamt eingereicht, um die Absprachen der Mineralölkonzerne zu unterbinden», sagt Mirko stolz. »Wenn die durchkommt, werden überall unabhängige Tante-Emma-Tankstellen entstehen. Dann ist die Korruption und Abzockerei zu Ende. Jeder tankt beim Benzindealer seines Vertrauens.»
»Du zeigst ja ganz schön Ehrgeiz in dieser Benzingeschichte. Dafür, dass du kein Auto fährst», sage ich erstaunt.
»Hotte, einer muss es ja tun. Wenn ich Erfolg habe, kann sich jeder Auto fahren leisten. Hotte, dann gibt es das Volksbenzin. Da mach ich mir einen Namen mit und werde sogar in Wikipedia erwähnt», schwillt seine Brust vor Stolz.
Jedem das seine. Ich trinke mein Bier aus und wünsche ihm viel Glück. Er mir nicht. Es sei politisch nicht korrekt, für kapitalistische Verlage zu schreiben. Wenn er meint. Meine Laune ist zu gut, um sie mir von Lambrecht vermiesen zu lassen. Ich winke dem Cowboyhut zu und verlasse das Faust.
Schade, dass es zu keinem Treppchenplatz gereicht hat. Aber egal. Dabei sein ist beim Slam wirklich alles. Morgen beginnt mein neues Leben, ich habe das Gefühl, dass mir momentan alles gelingen kann.

Kapitel 03 wird am Montag, den 19.07., veröffentlicht: Horst wird umgetauft.

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