Mittwoch, November 07, 2012

Ausgeschlossen

Ich wohne gerne zur Miete. Mit zwei linken Händen ausgestattet, muss ich mich nicht selber um defekte Abflüsse, undichte Fenster oder dekorative Türanstriche kümmern. Als ich eingezogen bin, wollte mein Vermieter die Behebung aller baulichen Defekte auf mich abwälzen. »Herr Bresser, so ein durchgerostetes Abwasserrohr repariert sich von selber. Sie gehen zum Hornbach und besorgen das passende Rohr. Nachdem Sie das alte rausgefriemelt haben, stecken Sie das neue vorsichtig rein und befestigen das Ganze mit einem Dichtring.« Das fand ich machbar. Ich lerne gerne neue Dinge. Am nächsten Tag rief ich ihn an. »Sagen Sie mal, Herr Opfermann. Zum Entfernen des alten Rohres nehme ich doch einen Presslufthammer? In Werkzeugkunde bin ich noch nicht so fit.« Im Hintergrund dröhnte eine alte Motörheadscheibe. Das klingt für ungeübte Ohren wie eine Abrissbirne bei der Arbeit. »Nein, Sie müssen sich doch nicht die Finger schmutzig machen. Ich komme sofort vorbei und kümmere mich um das Problem.« Er lernte wirklich rasch dazu. Doch momentan kann er mir nicht weiterhelfen. Frau und Sohn sind für eine Woche ans Meer gefahren und ich hüte die Wohnung. Und das von der falschen Seite der Eingangstür. Kaum habe ich die Tür hinter mir zugezogen, fällt mir ein, dass mein Schlüssel noch auf dem Schreibtisch liegt. Einen Ersatzschlüssel haben wir auch nirgendwo hinterlegt. Mist. Ich starre wütend auf die Tür, doch die bewegt sich nicht. Wäre auch zu schön gewesen. Wenn ich gelenkig genug wäre, würde ich mich mit Freude selber in den Allerwertesten beißen. Aber diese Fähigkeit hat mir der liebe Gott nicht in die Wiege gelegt. In Fernseh-Krimis öffnet sich die Tür, wenn Mensch mit einer Kreditkarte den Schnapper runterdrückt. Versuch macht klug. Meine EC-Karte will ich dann doch keinem Risiko aussetzen. Krankenkassenkarte? Ich bin eigentlich immer gesund, warum nicht. Ich zwänge die Plastikkarte durch den Türschlitz und halte zwei Teile in der Hand. Es überkommt mich das Bedürfnis, sofort einen Brief ans ZDF aufzusetzen, in dem ich mich über unrealistische Verbrauchertipps in diversen Soko-Serien beschwere. Geht nicht, fällt mir ein. Mein Rechner steht in der verschlossenen Wohnung. Ich habe keine Wahl: Ein Schlüsseldienst muss her. Im Allgemeinen haben diese Handwerker einen schlechten Ruf, aber eine zugezogene Tür zu öffnen ist kein Hexenwerk, übe ich mich in Zweckoptimismus. Mit dem I-Phone suche ich ein Unternehmen, dessen Unternehmenssitz auf unserer Straße liegt. Kein Problem sagt mir die nette Dame. Der Monteur fährt bereits vom Hof runter. Nach einer Viertelstunde warte ich immer noch. Ich stiefele die Treppe hinunter und schaue auf die Straße. So lange kann es doch nicht dauern. Nach einer weiteren halben Stunde rufe ich erneut in der Firma an. Ich solle mich gedulden, der Monteur wäre jede Sekunde bei mir. Diese Antwort erhalte ich auch eine Stunde später. Der Monteurwagen wäre hundert Meter von meinem Haus entfernt. Ich solle mal nicht quengeln. Schließlich wäre ich nicht der einzige, der sich ausgeschlossen hätte. Allein in Hannover hätten sie für heute dreihundertsechzehn Aufträge zu erledigen. Da müsse ich geduldiger werden. Ob ich schon einmal meditiert hätte. Okay, da hat sie recht. Ich Egoist. Und wirklich. Jetzt beschleunigen sich die Ereignisse: Nach nur einer weiteren schlappen Stunde hat der Monteur die letzten hundert Meter zurückgelegt und steht vor der Haustür. In der rechten Hand die Werkzeugtasche, in der linken den letzten Rest eines Big Macs. »Wir haben ein Problem, was«, stellt er lapidar fest.« »Was heißt wir? Ich habe mich ausgeschlossen! Sie haben Ihren Wohnungsschlüssel noch!« Er klopft mir beruhigend auf die Schulter. »Ich bin übrigens der Herr Naujocks. Das kriegen wir beide schon hin. Ganz ruhig, Herr Bresser.« Ich weiß nicht warum, aber mein Adrenalinspiegel sinkt. Ich vertraue Herrn Naujocks. »Dann schauen wir uns das gute Stück mal an.« Vor unserer Tür legt sich sein Gesicht in Falten. Gedankenverloren verspeist er den Hamburgerrest. »Uijuijuijuijui, das sieht nicht gut aus. Gar nicht gut.« Er hält mir ein Papier auf einem Klemmbrett unter die Nase. »Unterschreiben Sie erst mal den Auftrag. Dann kann ich mir weitere Gedanken machen.« »Die Tür ist nur zugezogen. Das kann doch nicht so wild sein.« Wie in Trance unterschreibe ich, ohne den Wisch zu lesen. »Sehen Sie hier.« Er zeigt auf einen mikroskopisch kleinen Kratzer auf dem Türblatt. »Das Schloss muss leider gewechselt werden. Alles andere würde größere Schäden verursachen.« »Nur zugezogen. Wirklich nur zugezogen«, wiederhole ich. »Bin ich der Fachmann oder Sie?« Naujocks stupst mich mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Ich lerne gerne von Experten. Aber wenn Sie so gut sind, hätten Sie mich nicht anzurufen brauchen. Oder sehe ich das falsch? Spaß beiseite. Sie müssen mir vertrauen.« Er bohrt, er schraubt, er setzt ein neues Schloss ein und drückt mir drei Schlüssel in die Hand. Dafür braucht er keine 5 Minuten. »Aber nicht wieder in der Butze vergessen«, mahnt er grinsend. »Jetzt kommen wir zum weniger angenehmen Teil, der Rechnung. Einen kleinen Moment bitte.« Er zaubert ein Formular und einen Taschenrechner aus der Tasche, addiert, multipliziert, schreibt kleine Ziffern, addiert wieder und stöhnt. Nach einer halben Stunde überreicht er mir seine Ausarbeitung. »Vierhunderachtzig Euro?« Herr Naujocks klopft mir auf die Schulter. »Weil ich Sie mag, habe ich noch zehn Prozent Rabatt gegeben. Zufriedene Kunden sind mein liebster Lohn.« »Sie waren doch sofort fertig. Das kann doch keine fünfhundert Euro kosten.« »Vierhunderachtzig, keine fünfhundert. Soll ich Ihnen die Rechnung erläutern?« »Bitte!« »Eine Schlüsseldienst braucht einen Wagen. Fahrzeugpauschale achtzig Euro. Dann muss ich den Wagen beladen. Rüstzeitpauschale von hundert Euro.« »Womit beladen?« »Nun werden Sie nicht komisch.« Naujocks wirkt zum ersten Mal verschnupft. »Ich hätte auch ohne Werkzeug kommen können. Hätte Ihnen das geholfen? Also. Ich musste zu Ihnen fahren. Zweihundert Euro.« »Ihre Firma sitzt doch auf meiner Straße. Wie kann das so viel kosten?« Naujocks verdreht die Augen. »Da sitzt nur unsere Telefonistin. Ich hatte vorher einen Einsatz in Salzwedel, reizendes Städtchen, aber weit entfernt. Für die Arbeitszeit muss ich Ihnen hundertdreiunddreißig dreiunddreißig berechnen. Abzüglich 10 Prozent kommen wir mit vierhundertachtzig ins Geschäft. Könnte ich Ihnen noch weiter aufdröseln, aber ich will Sie nicht langweilen.« Ich bin nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, aber jetzt werde ich wirklich wütend. »Das ist purer Wucher. Ihre komische Rechnung hat vor keinem Gericht der Welt Bestand.« »Das finde ich nicht fair. Ich helfe Ihnen in höchster Not und jetzt machen Sie mich so runter. Ich habe Gefühle.« So plötzlich wie er gekommen ist, verraucht mein Ärger. Vor allem, als Gerd, er bietet mir das »du« an, von seinen sechs Kindern, der Pleite mit der Reinigung und den dementen Eltern im Seniorenheim erzählt. Ich kann auch mit Kreditkarte zahlen. Da Gerd für einen Hungerlohn arbeitet und sein Chef das ganze Geld einstreicht, gebe ich ihm fünfzig Euro Trinkgelt. Bin doch kein Unmensch. Beim Abschied verabreden wir uns auf ein Bierchen und ich winke ihm nach. Was für ein toller Mensch. Am nächsten Tag schreibe ich im Café. Während ich mit der rechten Hand den Kaffeepott zum Mund führe, spielt die linke mit dem Schlüsselbund. Mich durchzuckt ein Schreck. Wo sind die losen Schlüssel vom neuen Türschloss? Ich Idiot. Wenn es für Dämlichkeit einen Nobelpreis geben würde, wäre ich der unangefochtene Favorit. Doch dann wird mir ganz warm ums Herz. Vielleicht sehe ich meinen Kumpel Gerd wieder.

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