Sonntag, November 04, 2012

Auf Tour mit Gerda

Ich mache mir Sorgen. Seit gestern höre ich Stimmen. Genaugenommen zwei. Die männliche habe ich Herr Appler getauft. So hieß mein autoritärer Mathelehrer in der fünften Klasse, der es sichtlich jeden Tag bedauerte, dass die Prügelstrafe in den 1980ern abgeschafft war. Aber die Pädagogik bietet genügend Spielraum für subtileren Sadismus. Und den wusste Herr Appler virtuos auszuschöpfen. Seine Stimme wellt noch heute meine Armhärchen zu einer Jimi-Hendrix-Gedächtnisfrisur. Da ziehe ich Gerda vor. Sie erinnert mich an Fräulein Rottenmeier aus Heidi. Ihre altjüngferliche Autorität spricht anscheinend eine masochistische Ader in mir an. Mehr Alternativen bietet dieses Navigationsgerät nicht. Bulli und Atze Schröder kosten extra. Außerdem ist Routenplanung eine ernste Angelegenheit. Also ist Gerda genau die richtige Stimme für mich. Ich habe lange überlegt, ob ich mir ein Navi zulegen soll. Mensch überantwortet schließlich einen Teil seiner Selbstständigkeit an eine Maschine. »Blödsinn«, meint mein Kumpel Joe. »Willst du weiterhin wie im letzten Jahrtausend mit der Straßenkarte durch die Landschaft gondeln. Deine Technikverweigerung kostet dich bestimmt fünfzig Stunden Lebenszeit pro Jahr.« Das hat mich überzeugt. Und manchmal kann es auch angenehm sein, Verantwortung an andere zu delegieren. Vor allem im Straßenverkehr. Heute lotst mich Gerda nach Neustadt. Am Abend lese ich dort aus meinem aktuellen Roman. Ich habe mich für die Mittagszeit mit Herrn Hoffmeister von der veranstaltenden Buchhandlung zum Schnack beim Essen verabredet. Meine Begleiterin leitet mich auf A2 bis Braunschweig, dann A395 Richtung Bad Harzburg. Schließlich befahre ich diverse Bundesstraßen im idyllischen Harz und bin restlos begeistert. Hätte ich eine solche Tour mit Karte geplant, hätte das bestimmt eine Stunde gekostet. Das Befahren diverser Irrwege nicht mitgerechnet. Ich klopfe mir im Geiste auf die Schulter. Eine kluge Investition. Nach zwei Stunden verkündet Gerda »Sie haben Ihren Bestimmungsort erreicht.« Ich würde es zwar begrüßen, wenn sie mich duzt. Bei Fahrgemeinschaften mag ich eine persönliche Atmosphäre, doch sie lässt sich nicht dazu überreden. »Dankeschön. Guter Job«, lobe ich sie. Ich finde sofort einen Parkplatz und freue mich, wie gut es das Leben mit mir meint. Als ich aussteige bin allerdings etwas verwirrt. Ich habe mir als Adresse Bahnhofstraße aufgeschrieben. Keine Buchhandlung in Sicht. Ich betrete eine Metzgerei. »Entschuldigen Sie. Ich suche die Buchhandlung Leselust. Wo finde ich die?« Die korpulente Verkäuferin, deren Gesicht der Salami in der Auslage ähnelt, mustert mich misstrauisch. »Buchwas?« »Buchhandlung. Ich lese dort heute Abend. Sie sind herzlich eingeladen.« Ich zeige mich von meiner besten Seite. Vergeblich. »Sowas gibt es hier nicht. Wir sind ein anständiger Ort.« Eine Kundin meint »Vielleicht in Niedersachsenwerften? Hier gab es wirklich noch nie eine Buchhandlung. Vor allem nicht mit diesem Namen.« Okay. Ich scheine hier falsch zu sein. Vielleicht gibt es hier im Harz noch ein anderes Neustadt? Der Ortsname soll ja nicht selten vorkommen, überlege ich. Ich trete auf die Straße und zücke mein Handy. »Joe, du musst mir helfen. Ich kann in dieses Navi keine Postleitzahl eingeben. Schau mal, ob es hier in der Ecke ein anderes Neustadt gibt. Und welcher andere Ort dort in der Nähe liegt?« »Gibt es. Fahr vielleicht nach Mackenrode. Dort müsste es ausgeschildert sein.« Brav tippe ich Mackenrode in mein Navi und die Straße hat mich wieder. Gerda führt mich an idyllischen Orten wie Bad Sachsa, Bad Lauterberg Richtung Westen. Nach einer guten Stunde erreiche ich Mackenrode. Ich frage einen Passanten nach Neustadt. Keine Ahnung, da gibt es eins bei Hannover. Das kenne ich selber, das ist es nicht. Dann kann er mir auch nicht weiterhelfen. Obwohl ich das Ortseingangsschild mit eigenen Augen gesehen habe, frage ich noch mal nach. Nee, Mackenrode stimmt schon. Aber das gibt es zwei Mal. Ich solle in Richtung Bad Sachsa fahren und dort weiterfragen. »Ich habe ein Navi«, sage ich entrüstet. Da sollte Mensch nicht fragen müssen. Er zuckt die Schultern. »Warum sprechen Sie mich dann an.« Ist mir auch ein Rätsel. Im Auto starre ich finster auf das Navi. Ich rufe noch mal Joe an. »Das Mackenrode ist falsch. Und das andere liegt neben dem Neustadt, wo ich schon war.« »Nee, da gibt es kein anderes Neustadt. Allerdings im Südharz eine Straße, die Neustadt heißt. Auch in Harzgerode. Warum rufst du nicht einfach diesen Buchhändler an?« »Ich habe die Nummer verlegt«, gestehe ich. »Dann musst die Orte abklappern. Du hast jetzt so ein tolles Tom-Tom. Nutze es doch.« Um 13 Uhr erzählt Gerda mit ironischem Unterton »Sie haben ihren Bestimmungsort erreicht.« Nein, habe ich nicht. Nur ein weiteres Neustadt, einen lauschigen Luftkurort, allerdings ohne Buchhandlung. »Hier erholt man sich«, erklärt mir der Wirt vom Goldenen Ochsen. »Da würde eine Buchhandlung nur stören.« Sehe ich ein. Bis Harzgerode sind es nur zwanzig Minuten. Und tatsächlich. In der Nähe des Bahnhofs finde ich meine Buchhandlung. Nicht Bahnhofstraße, Nähe Bahnhof. Das hätte ich mir präziser notieren müssen. Auf mein Navi ist Verlass, nur nicht auf mich. »Entschuldigen Sie, dass ich zu spät komme. Ich habe nicht so gut hergefunden«, begrüße ich Herr Hoffmeister. »Kein Thema. Haben Sie etwa kein Navigationsgerät? Ohne wäre ich auch aufgeschmissen.« Mitleidig klopft er mir auf die Schulter. Ich sage nichts und schaue möglichst zerknirscht aus der Wäsche. »Egal. Aber was machen Sie eigentlich schon heute hier? Die Lesung findet doch erst morgen statt.« Davon hat mir Gerda nichts gesagt. Ich empfinde nur ein wenig Wehmut, als ich vor der Rückfahrt das Navi in den nächsten Mülleimer schmeiße. Delegieren ist einfach nicht mein Ding.

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